Yhhhh! 2022 fand die WM der Männer statt! Es wurde auch mal wieder Zeit! Die letzte WM ist schließlich vier Jahre her … und Corona war ja auch. Währenddessen mussten alle großen Fußballevents ausfallen oder konnten nur unter strikten Hygienebedingungen stattfinden. Umso größer war die Vorfreude bei vielen Fußballfans. Bei der Organisation dieser WM ist die FIFA besonders kreativ gewesen. Statt im Sommer fand die WM erstmals im Winter statt: ein Wintermärchen. Ebenso neu war, dass diese in Katar und damit zum ersten Mal in der sogenannten „arabischen Welt“ stattfand. Die FIFA empfindet neben dem friedlichen und solidarischen Zusammenkommen unterschiedlicher „Kulturen“ und „Nationen“ besonders die Möglichkeit des „politischen Fortschritts“ Katars als positiv. Auf wessen Kosten jedoch diese WM stattfinden sollte, ist nicht das Lieblingsthema der FIFA.
Am 20. November 2022 haben Katar und Ecuador den Wettbewerb mit einer 90-minütigen Partie feierlich eröffnet. Dabei ist eher die Frage, ob es eigentlich nicht viel mehr etwas zu betrauern gibt. Dass die WM zugunsten von Menschenrechtsverletzungen stattfindet, ist schon längst kein Geheimnis mehr. Besonders Arbeitsmigrant*innen wurden für die Ermöglichung der Fußball-Weltmeisterschaft ausgebeutet und misshandelt. Die meisten Arbeitsmigrant*innen kamen dabei aus Bangladesh, Nepal, den Philippinen und Pakistan und erhofften sich durch die Migration ein besseres Leben. Neben sehr schlechten Arbeitsbedingungen wird ebenso die Zahl der Todesopfer bei den Arbeitsmigrant*innen als sehr hoch eingeschätzt. Da die katarische Regierung die Todesursache der Opfer nicht untersucht und die FIFA keine Zahlen erhebt, kann die Zahl der bislang umgekommenen Menschen nur geschätzt werden. Laut Amnesty International gibt die katarische Behörde an, dass zwischen 2010 und 2019 insgesamt mehr als 15.000 Menschen nicht katarischer Staatsangehörigkeit ums Leben kamen.(1) Laut der britischen Tageszeitung „Guardian“, welche die Sterberate von Gastarbeiter*innen der Regierungen der jeweiligen Herkunftsländer geprüft hat, sind es bis Herbst 2022 bereits mehr als 6.500 Todesopfer gewesen. In den Berechnungen sind auch Gastarbeiter*innen enthalten, die nicht mit Arbeiten an der WM zu tun hatten. Wie viele wirklich auf den Baustellen verstorben sind, lässt sich nicht genau sagen.(2) Der Generalsekretär des Organisationskomitees, Hassan al-Thawadi, bestätigte zuletzt 400 bis 500 toten Gastarbeiter*innen.
Arbeitsmigrant*innen werden in Katar auf Basis des Kafala-Systems beschäftigt. Dieses System erlaubt ihnen nur die Einreise, wenn sie einen „Sponsor“ finden, der für sie die Verantwortung übernimmt. Dies sind meistens die Arbeitgebenden. Daher sind die Arbeitsmigrant*innen extrem von den Arbeitgeber*innen abhängig. Arbeitgebende müssen zum Beispiel einem Wechsel des Arbeitsplatzes oder einer Ausreise zustimmen. Ferner sind sie befähigt, das Arbeitsverhältnis zu jeder Zeit aufzulösen und damit einhergehend die Aufenthaltserlaubnis aufzuheben. Dieses System lädt dazu ein, Arbeitsmigrant*innen auf Basis von Zwangsarbeit zu beschäftigen, sodass Menschen entweder niedrig, zu spät und gar nicht entlohnt werden.(3)
Der Präsident des Weltfußballverbandes FIFA, Gianni Infantino, sagt dazu: „We have to acknowledge the important progress that has been achieved in Qatar over the last decade.“(4) Abgesehen davon, dass aber hinterfragt werden kann, inwiefern sich die Arbeitssituation der Arbeitsmigrant*innen tatsächlich seit 2010 verbessert hat, ist doch viel eher die Frage, weshalb die FIFA als privater Sportverband – mit Sitz in der Schweiz – es als ihre Aufgabe ansieht, einen politischen Fortschritt in Katar anzuregen. Es wirkt selbstlos und altruistisch. Es schwingt aber auch ein negatives Bild mit: Um sich in der sogenannten „arabischen Welt“ entwickeln zu können, scheint man vom Westen abhängig zu sein.
Der Vorwurf, die FIFA handele bei der WM-Vergabe aus ökonomischem Interesse heraus, ist vollkommen nachvollziehbar. Die hier vorliegende Kapitalismuskritik, dass Geld über schlechte Arbeitsverhältnisse und gar über die Gefährdung von Menschenleben gesetzt wird, ist berechtigt, besonders mit Blick auf die Korruptionsvorwürfe.(5) Insgesamt sollen vier Ex-Funktionäre für die Abstimmung über die Vergabe der WM der Männer bestochen worden sein, wodurch Katar am Ende Sieger des Verfahrens wurde. Gründe, wie zum Beispiel das beschriebene Kafala-System und die Gefährdung von Menschenleben, die dazu führen würden, die Vergabe der Weltmeisterschaft noch einmal zu überdenken, gäbe es für die FIFA nicht.(6)
Fokussieren wir uns in der Argumentation jedoch ausschließlich auf das Machtgefälle zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in, bagatellisieren wir das herrschende Machtgefälle zwischen dem westlichen, globalen Norden und dem globalen Süden, das unübersehbar ist. Bereits die Austragungsorte Südafrika (2010) und Brasilien (2014) zeigten, dass die WM mehr Schaden als Fortschritt für das Austragungsland gebracht hat. Mit der WM-Austragung in Südafrika wagten viele die Hoffnung, die (eurozentrischen) negativen Konnotationen mit dem Kontinent Afrika zu überwinden. Des Weiteren versprach die FIFA dem Staat einen Wirtschaftsaufschwung. Stattdessen verschwanden aber viele entstandene Jobs nach dem Turnier wieder; die Kapazitäten der Stadien werden bis heute nicht ausgeschöpft, da diese für viele Einwohner*innen zu teuer sind; eine neue „Fußballkultur“ etablierte sich nicht und die erhofften besseren Lebensbedingungen wurden für viele Menschen nicht erfüllt.(7)
In Brasilien waren ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Die WM in Brasilien war bedeutend teurer als jene in Südafrika. Nach der WM stellten sich ähnliche Fragen wie nach der WM in Südafrika. Was passiert mit den Stadien? Was ist mit den entstandenen Jobs? Tatsächlich protestierten über zwei Millionen Einwohner*innen bereits während der laufenden WM im Jahr 2014. So protestierten sie gegen steigende Preise, Korruption und Polizeigewalt. Besonders kontrovers waren die Zwangsumsiedlungen aus den Favelas (portugiesisch: „Armenviertel“).(8)
Sowohl Südafrika als auch Brasilien zeigen, dass die WM in diesen Ländern keinen bedeutenden „Fortschritt“ gebracht hat, sondern eher neue Hürden für die jeweiligen Länder, wohingegen die FIFA davon finanziell profitierte. Politikwissenschaftler und Philosoph Jacob Emmanuel Mabe schreibt in diesen Zusammenhängen von „Neokolonialismus/-imperialismus“ – also einer fortwährenden Abhängigkeit und Überlistung vom (westlichen) globalen Norden trotz angeblicher Dekolonialisierung bzw. Deimperialisierung. Damit meint er „eine reine expansionistische, auf Profitgier, Selbstsucht und skrupelloser Ausbeutung beruhende Ideologie, die nur die Sicherung des Wohlstands der reichen Industrieländer auf Kosten der schwachen Staaten zum Ziel hat“. (9)
Die verhängnisvolle Menschenrechtslage in Katar darf nicht außer Acht gelassen werden. Es ist schon lange bekannt, dass Katar neben den miserablen Arbeitsbedingungen auch die Frauen- und Menschenrechte sowie die Rechte von Minderheiten missachtet. Selbstverständlich kann nicht von einer Verwestlichung im neokolonialen/-imperialen Kontext gesprochen werden, da Menschenrechte einen universellen Anspruch besitzen. Daher ist Kritik an der Menschenrechtslage in Katar wichtig und richtig. Fraglich wird es aber dann, wenn Katar mit der gesamten sogenannten „arabischen Welt“, dem gesamten „Orient“ oder dem gesamten „Nahen Osten“ gleichgesetzt wird. Damit wird der sogenannte arabische Raum homogenisiert sowie entsubjektiviert und die Menschenrechtsverletzungen in diesen Regionen normalisiert. Zusätzlich wird antimuslimischer Rassismus dadurch legitimiert. Beispielsweise ist zu beobachten, wie das Alkoholverbot in Katar kritisiert wurde – wohl ein wichtiges Anliegen westlicher Fußballfans.(10) Dabei ist zu hinterfragen, ob die Diskussionen über das Trinken im Stadion eine kontroverse Menschenrechtsfrage darstellt und ob dies ein Grund ist, die gesamte sogenannte „arabische Welt“ als „unterentwickelt“ und „spaßverderberisch“ darzustellen.
Abgesehen davon darf nicht missachtet werden, dass auch der „europäische“ Fußball nicht frei von Rassismus oder Sexismus ist. Damit missachtet er ebenso Menschenrechte. Diese Feststellung ist kein Grund dafür, Menschenrechtsverletzungen allgemein im bzw. durch Fußball zu legitimieren, sondern vielmehr ein Impuls dafür, vor der eigenen Haustür zu kehren.
Der Fußball-Funktionär Gianni Infantino akzentuiert zwar: „We live in an aggres-
sive world, in a divided world, but I am a big believer in the power of football to bring people together and to cross cultural boundaries“,(11) ignoriert aber dabei, dass die Organisation der WM die Spaltung zwischen dem westlichen, globalen Norden und dem globalen Süden nur stärker zum Ausdruck brachte. Denn während die FIFA sich sorgenfrei um einen neuen Austragungsort kümmert, tragen die Länder des globalen Südens die Folgen. Brasilien und Südafrika zeigen beide, dass es in Katar vermutlich nicht anders aussehen wird.
Die Arbeit für diese Ausgabe wurde vor Ende der WM abgeschlossen. Die Redaktion beobachtet weiterhin aufmerksam die Entwicklungen in Katar und die WM der Männer 2022.
Good to know:
Kafala-System: System von hierarchisch geprägtem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden. Hauptsächlich vertreten in den arabischen Golfstaaten. „Kafala“ bedeutet so viel wie „Bürgschaft“, d. h. ein einheimischer „Kafil“ fungiert als privater Arbeitgeber, „Bürge“ oder „Sponsor“. Die Arbeitnehmenden, meist Arbeitsmigrant:innen aus dem Ausland, befinden sich damit in vollkommener Abhängigkeit vom Kafil und besitzen keinerlei eigene Rechte.
Quellen
(1) Amnesty International, 2022: Fußball-WM: Katar und die FIFA müssen Arbeitsmigrant*innen entschädigen!, online amnesty.de [26.10.2022].
(2) The Guardian, 2021: Revealed: 6,500 migrant workers have died in Qatar since World Cup awarded, online theguardian.com [26.10.2022].
(3) Huther, E., 2019: Wie Katar seine Arbeiter ausbeutet, online rp-online.de [26.10.2022].
(4) FIFA , 2022: FIFA President and Qatar Minister of Labour meet to discuss progress of labour rights, online fifa.com [26.10.2022].
(5, 6) Zekri, S., 2014: Belohnung für die Falschen, online
sueddeutsche.de [26.10.2022].
(7) Jansen, O., 2013: Kein Wasser, kein Strom und ein leeres WM-Stadion, online zeit.de [26.10.2022].
(8) Brasilien, 2022: Brasilien nach der WM – eine kritische Bilanz, online brasilien.de [26.10.2022].
(9) Mabe, J. E., 2005: Der Vorwurf von kultureller Dominanz und Neokolonialismus, online bpb.de [26.10.2022].
(10) Spiegel Online, 2022: Offenbar kein Alkoholausschank in den Stadien – aber davor, online spiegel.de [26.10.2022].
(11) FIFA, 2022: FIFA President calls for leadership, peace and development in Congress address, online fifa.com [26.10.2022].
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