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Gefangen zwischen den Landesgrenzen - XXX für Staatenlos

Sommer 2022: Ich befinde mich am Grenzübergang Konstanz-Kreuzlingen. Mit einem Fuß in Deutschland, mit dem anderen in der Schweiz. Vor mir 15 lebensgroße Stellwände der Ausstellung „IMAGINE“ von Florian Schwarz mit Porträts und Geschichten von Menschen. Staatenlosen Menschen. Menschen, die per Definition von keinem Staat als Staatsangehörige angesehen werden.


(c) Florian Schwarz

Gänsehaut überströmt meinen Körper und tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Wie kann es sein, dass es heutzutage Menschen gibt, die keine Staatsangehörigkeit haben? Was bedeutet das konkret? Wie könnte es dazu gekommen sein und was für Folgen zieht das mit sich? Was für Schwierigkeiten ergeben sich für die Betroffenen? Was ist mit ihren Familien? Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es sich anfühlen muss, wenn Rechte und Freiheiten in den Sternen stehen. Je mehr ich über die Thematik nachdenke, desto mehr Fragezeichen durchbohren meine Synapsen. Ich möchte verstehen, wie wir als Gesellschaft unterstützen können.

Wie ich heute herausgefunden habe: Wer staatenlos ist, kann offiziell kein Land als Heimat bezeichnen.(1) Wer staatenlos ist, hat keine Garantie auf einen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem sowie zum Arbeitsmarkt. Keine Garantie auf grundlegende Sozialleistungen oder politische Rechte. Wer staatenlos ist, hat keine Möglichkeiten zu wählen, zu heiraten, zu reisen oder Eigentum zu besitzen.(2) Auf dem persönlichen Pass stehen anstelle eines Herkunftslandes einfach drei X.(3)


XXX.

Klingt unfair? Nach Definition der UN-Menschenrechtscharta hat jeder Mensch einen Anspruch auf eine Staatsangehörigkeit.(4) Dennoch gibt es unzählige Betroffene. Unzählig ist in diesem Sinne wörtlich zu verstehen, denn aufgrund der politischen Sensibilität dieses Themas, u. a. verursacht durch Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, führen viele Regierungen keine genauen Zählungen durch.(5) Im Jahr 2019 haben 76 Länder über die staatenlose Population berichtet, während 22 Länder keine Daten veröffentlichten.(6) In Hamburg waren im Jahr 2018 313 staatenlose Personen, 2.367 Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit und 95 Personen ohne Angaben registriert.(7)

In diesem fragilen Chaos ständiger Unsicherheit, De-facto und überfordernder Bürokratie wird auch noch zwischen De-jure- und De-facto-Staatenlosigkeit unterschieden. De-jure-Staatenlosigkeit ist rechtlich anerkannt, im Gegensatz zur De-facto-Staatenlosigkeit. Diese kann beispielsweise Titel wie „ungeklärte Staatsangehörigkeit“ mit sich bringen. Eine De-facto-Staatenlosigkeit besteht bspw. dann, wenn die Betroffenen keine Ausweispapiere vorzeigen können oder sie trotz Staatsangehörigkeit eingeschränkte Rechte haben. Da in Deutschland für die Einbürgerung eine geklärte Identität notwendig ist, bietet eine De-jure-Staatenlosigkeit die bessere Chance für einen erfolgreichen Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und rechtlichen Schutz vor bspw. einer unrechtmäßigen Inhaftierung.(8)


Aber wie kommt es nun dazu, dass Menschen diesem Zustand, dieser Schwebe, dieser Unmenschlichkeit ausgesetzt sind? Die Diversität der Ursachen geht weit über den sog. Begriff „Geflüchtetenbewegung“ hinaus: Auflösung von Staaten, Entzug der Staatsangehörigkeit, Veränderung von Staatsangehörigkeitsgesetzen und bürokratische Praktiken, diskriminierende Gesetze und Gesetzeslücken, fehlende oder nicht anerkannte Nachweise der Staatsangehörigkeit sowie Flüchtlingsmigration durch Klimaflucht können Ursachen für Staatenlosigkeit sein.(9)


Ein definiertes Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit, wie es bei der Feststellung von Geflüchteten gehandhabt wird, gibt es in Deutschland bislang nicht. Dennoch bietet das im August 2019 veränderte Staatsangehörigkeitsgesetz ein gewisses Maß an Rechtsschutz (StAG).(10) Aus dem Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit resultiert eine Pflicht zur Gleichstellung staatenloser und ausländischer Personen. Dies wirkt unterstützend bei der Feststellung der Staatenlosigkeit und somit auch bei der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (§ 25 Abs. 5 AufenthG). Darüber hinaus ist eine Einbürgerung in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen der Ermessenseinbürgerung nach sechs Jahren möglich.(11)


Christiana Bukalo, Gründerin der gemeinnützigen Organisation Statefree e. V. visualisiert in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung: „Theoretisch muss man nachweisen, dass man nicht in der Lage ist, eine andere Staatsangehörigkeit zu erhalten. Die Beweislast liegt bei der staatenlosen Person, nur ist es ziemlich schwer, etwas zu beweisen, das nicht vorhanden ist.“ Sie thematisiert weiterhin, dass allein der Prozess, einen Nachweis über sein Herkunftsland zu erbringen, oft auch retraumatisierend sein kann, da die Betroffenen aus den unterschiedlichsten Gründen keine Bindung mehr zu ihrem Nationalstaat hätten.(12)

Die Frage ist nun: Was kann und muss getan werden, um diesen absurden Schwebezustand staatenloser Personen aufzulösen und ihnen ein humanes, rechtlich sicheres, gleichberechtigtes und gesundes Leben zu ermöglichen?


Die UN Refugee Agency (UNHCR) sieht u. a. die Weiterbildung politischer Instanzen wie bspw. Regierungsbeamte, Beratungs- und Entwicklungsarbeit z. B. bei der Stärkung der Frauen- und Kinderrechte und die Verbesserung der Kommunikation und Zusammenarbeit auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene als notwendiges Mittel. Sie unterstützt selbst bei der Verhinderung von Staatenlosigkeit, u. a. durch die Überwachung der Umsetzung der beiden Übereinkommen zu den Themen Rechtsstellung der Staatenlosen (von 1954) und Verminderung der Staatenlosigkeit (von 1961).(13)


Die Organisation Statefree e. V. hat sich überdies zur Aufgabe gemacht, ein Bewusstsein für die Thematik in der Bevölkerung zu schaffen, Inklusion und Partizipation zu fördern und staatenlosen Menschen eine Community zu bieten. Auf der Plattform community.statefree.world können sich staatenlose Personen verknüpfen, ihre Geschichten miteinander teilen, Fragen stellen und diskutieren. Fotoprojekte wie die Ausstellung „IMAGINE“ in Kooperation mit Statefree e.V. und dem Fotografen Florian Schwarz gehen unter die Haut und visualisieren das Thema Staatenlosigkeit auf eine moderne und authentische Art.(14)

Zurück nach Konstanz. Ich wandere zwischen den Stellwänden umher, mit Tränen in den Augen, wütend und traurig zugleich und einem bedrückenden Gefühl. Auf dem Porträt von Mheadeen aus Hamburg stehen u. a. die Worte:


„John Lennon, Imagine, kennst du das? Imagine there’s no countries. It isn’t hard to do. Nothing to kill or die for. And no religion, too. Genau so fühle ich.“

Die mitreißenden Worte auf den Porträts verdeutlichen, dass Staatenlosigkeit nicht nur ein politisches, sondern auch ein emotionales Thema ist. Ein politisch sensibles Thema. Ein Thema, welches schätzungsweise über 15 Millionen Menschen weltweit betrifft.(15)


 

Das Buch zur Fotoreihe IMAGINE von Florian Schwarz ist bei Fw:BOOKS in Kooperation mit der Galerie Vayhinger erschienen.

 

Quellen

(1, 5, 13) UNHCR Deutschland, 2022: The UN Refugee Agency: FAQ Staatenlose/Staatenlosigkeit, online unhcr.org [15.11.2022].


(2, 8, 9, 10, 12) Wattenberg, B., 2022: Kurzdossier Staatenlosigkeit, online bpb.de [17.11.2022].


(3, 4) Niesen, L., 2021: No Land’s man, online fluter.de [17.11.2022].


(6) UNHCR, United Nations High Commissioner for Refugees, 2020: Global Trends. Forced Displacement in 2019, online unhcr.org [15.11.2022].


(7) Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, 2020: Statistisches Jahrbuch Hamburg 2019/2020, online hamburg.de [18.11.2022].


(11, 14) Statefree e. V., 2022, online statefree.world [17.11.2022].


(15) Hanewinkel, V., Wattenberg, B., 2022: Staatenlosigkeit in Vergangenheit und Gegenwart, online bpb.de [18.11.2022].


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