top of page
Roxana Safarabadi

soorum - Das queere Aufklärungsprojekt

Aktualisiert: 16. Mai 2022

Roxana im Gespräch mit Anne und Belal.


Aufgeregt stehe ich vor dem Magnus-Hirschfeld-Centrum (mhc) am Borgweg. Ich erhasche schnell einen Blick durch die Fensterfront und erahne ein Café oder eine Bar, über mir eine Regenbogenflagge, die im Wind weht. Da stehen auch schon Anne und Belal, die mich mit einem freudigen Lächeln begrüßen. Wir gehen rein. Ich bin hier, um mit ihnen über ihre Arbeit bei soorum zu reden.

 

Ich habe gelesen, dass es soorum schon seit 1994 gibt. Wie ist das Projekt entstanden und was hat sich über die Zeit verändert?


Anne: Soorum wurde von einer Handvoll Leuten gegründet, die der Ansicht waren, es habe ihnen in der Schulzeit etwas gefehlt: Die Existenz queerer Menschen wurde nicht behandelt. Darum gründeten sie 1994 soorum als schwul-lesbisches Aufklärungsprojekt. Mittlerweile sind wir ein Team aus ca. 40 Ehrenamtlichen, die Workshops für Schulklassen und andere Jugendgruppen geben und über das sprechen, was zum Beispiel im Unterricht oft zu kurz kommt. Die Themen haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt und so stehen neben der sexuellen Orientierung auch Geschlechtsidentitäten im Mittelpunkt unserer Arbeit. Seit 2012 werden wir sogar gefördert und konnten uns dadurch weiter professionalisieren.


Damals gab es eher einzelne Schulen und Lehrkräfte, die sich dafür eingesetzt haben, dass ein Workshop stattfindet oder eine Schulklasse hier im mhc vorbeikommt. Mittlerweile führen wir eine Warteliste! Die Thematiken werden jetzt in vielen Schulen selbstverständlicher mitgedacht, statt dass sich damit erst nach homo- oder transfeindlichen Vorfällen auseinandergesetzt wird. Dadurch bekommt das Thema ein anderes Standing und es gibt immer mehr Projektwochen an Schulen zum Thema Vielfalt. Das ist eine Entwicklung, die uns alle sehr freut.


Seit wann seid ihr beiden denn schon dabei?


Anne: Ich bin seit 2014 dabei! Ich habe als Ehrenamtliche gestartet und bin jetzt seit drei Jahren in der Projektleitung.


Belal: Ich bin seit einem Jahr bei soorum, angefangen habe ich im Jahr 2019. Damals bin ich über MAHDIWAN dazu gekommen, das ist eine Gruppe für LGBT*-Refugees, die sich auch im mhc treffen.


Wie kann man sich euren Arbeitsalltag vorstellen?


Anne: Oben im Haus befinden sich Büros und die Beratungsstellen, diese sind vormittags meist nicht besetzt. Im Untergeschoss sind noch zwei Räume, die zum Beispiel von den Jugendtreffs genutzt werden. Vor Corona sind Schulklassen zu uns gekommen und das ganze Zentrum wurde als außerschulischer Lernort genutzt. Es hat einen starken Mehrwert, wenn Klassen herkommen und sich alles angucken können. Zum einen, weil es noch immer Schüler*innen gibt, die krasse Vorstellungen haben, was in so einem queeren Kulturzentrum eigentlich los ist, und zum anderen, weil es ja auch in Klassen selbst queere Jugendliche gibt und es eine unfassbare Hürde sein kann, zu einem Jugendtreff zu gehen. Somit lernen sie vorab die Räumlichkeiten kennen und die Hürde, Freitagabend noch einmal wiederzukommen, ist etwas niedriger. Wir freuen uns über jedes neue Gesicht in unseren Gruppen.


Ihr bietet auch Workshops an. Wie kann man sich die vorstellen?


Anne: Ein regulärer Workshop würde damit beginnen, dass ca. sechs ehrenamtliche Teamer*innen gemeinsam mit der Klasse im Saal in einem Stuhlkreis zusammenkommen. Wir klären Grundbegriffe zu sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, sammeln, was die Schüler*innen schon kennen, und fügen dann noch hinzu, was fehlt. So bekommen wir einen groben Überblick über die Vorkenntnisse der Teilnehmer*innen. Wir versuchen spielerisch über Vorurteile ins Gespräch zu kommen und fragen z.B., welche Begriffe und Sterotypen sie im Kopf haben, wenn sie uns sehen. Dabei kommen oft schon spannende Sätze und Fragen auf: “Ich glaube, du bist schwul, wegen deiner Schuhe”, “du siehst so nett aus, du musst einfach bi sein” oder “ich glaube du bist pan, weil du siehst so aus, als machst du Kampfsport!”. In diesen Gesprächen wird dann schnell deutlich, dass weder sexuelle Orientierung noch geschlechtliche Identität immer am Äußeren zu erkennen sind. Im Anschluss machen wir eine Hausführung.


In der dann folgenden Hauptphase der Workshops, geben wir die Möglichkeit, all jene Fragen zu stellen, die man sich sonst vielleicht nicht trauen würde. Das kann anonym sein, auf einen Zettel aufgeschrieben werden oder einfach direkt in den Raum geworfen werden. Wir haben nur eine Regel: Sie können uns alles fragen, wir müssen aber nicht alles beantworten.


Die Lehrkräfte sind während den Fragerunden nicht dabei - wir wollen den Schüler*innen einen wertfreien Raum bieten, wo Strukturen aufgebrochen werden, und wir wollen die Sicherheit geben, alles fragen zu können, was sie interessiert, ohne die Angst haben zu müssen, etwas falsch zu formulieren. Am Ende des Workshops verabschieden wir dann alle im Saal.


Gibt es Fragen, die euch besonders im Gedächtnis geblieben sind?


Anne: (lacht) “Flirten alle Lesben mit Keksen?” - Der Gedanke stammt aus einer Netflix-Serie, die die Schülerin anscheinend gesehen hat...


Belal: Oder auch: “Wenn man schwul ist, findet man sich dann selber geil?” Beim letzten Workshop, den ich gegeben habe, kam die Frage: “Muss man sich überhaupt outen? Und warum müssen sich heterosexuelle Menschen dann nicht auch outen?” Spannende Fragen!


Das wäre auf jeden Fall ein Workshop, den ich mir zu meiner Schulzeit auch gewünscht hätte...


Belal: Wenn ich mich zurückerinnere, hatten wir an meiner Schule in Palästina keinen Unterricht oder eine solche Art der Aufklärung. Es wäre schön gewesen, Begriffe wie z.B. schwul oder lesbisch zu benennen, dann hätten wir uns austauschen können. Als ich dann vor drei Jahren nach Deutschland gekommen bin und gesehen habe, dass es hier Programme wie soorum gibt, hat das mein Interesse geweckt. Mit der Zeit fühle ich mich auch immer wohler. Es macht viel aus, wenn wir zu Schüler*innen gehen, die BPoC [Black and People of Colour, Anm. der Red.)] sind, die homosexuell sind, und sie mich dann sehen und merken, dass wir doch vieles gemeinsam haben. So bauen wir Brücken der Toleranz auf und das wiederum motiviert mich. Viele weiße Schüler*innen sind der Meinung, dass jeder Ausländer homophob oder sexistisch ist. Ich bin für sie ein Zeichen, dass dies nicht so ist.


Anne: Ich finde es schade, dass gewissen Schüler*innen unterstellt wird, sie seien eher homophob eingestellt, weil sie nicht weiß sind oder weil sie nicht der christlichen Religion angehören. Wenn du dann noch als queere Person in der Klasse sitzt, wird dir direkt abgesprochen, Teil der Community zu sein. Daher möchten wir nicht nur Queerfeindlichkeit entgegentreten, sondern intersektionale Antidiskriminierungsarbeit leisten. Wir sind bei soorum ein großes Team und möchten zeigen, wie divers die queere Community sein kann. Jeder von uns bringt seine eigene Geschichte mit, Dinge, mit denen man zu kämpfen hat und sich auseinandersetzen muss. Dadurch wird z.B. auch den Schüler*innen klar: Ich habe jetzt eine schwule Person kennengelernt, aber ich kenne nicht alle. Wir sind vielfältig, ich bin nicht stellvertretend für alle, aber ich kann durch meine Geschichte Vorurteile nehmen und andere Perspektiven aufzeigen.


Das stelle ich mir schwer vor…, da sitzt man vor einer Gruppe von Schüler*innen, ist bereit, intime Erlebnisse zu erzählen, und wird mit Vorurteilen und verletzenden Sprüchen konfrontiert. Wie geht ihr mit solch einer Situation um?


Anne: Ich denke mir immer, die Jugendlichen sind noch in ihrer Findungsphase und was aus ihren Mündern kommt, ist nicht, was sie sich selbst schon als zukünftigen Fahrplan gesetzt haben. Es ist oft das bisherige oder derzeitige Umfeld, das auf die abfärbt. Daher ist es wichtig, etwas dagegenzusetzen und eine andere Perspektive näherzubringen. Wenn jemand sagt: “Für mich gehört ihr ins Gefängnis! Das gehört verboten!”, dann erwarte ich nicht, dass er drei Stunden später mit einer Regenbogenflagge aus der Tür geht. Aber vielleicht arbeitet seine Erfahrung des Workshops in seinem Inneren weiter und mit den Jahren denkt er anders über das Thema. Selbstverständlich stärken wir uns auch gegenseitig als Teamer*innen und sind füreinander da, wenn Redebedarf besteht.


Was mögt ihr besonders an eurer Arbeit?


Belal: Ich mag es, mit den Schüler*innen laut zu denken. Einmal wurde ich gefragt, wie Eltern möglicherweise auf ein Coming-out reagieren würden. Dann versuche ich immer, dass die Schüler*innen ein solches Szenario laut durchdenken und verschiedene Antworten finden. Eine Person meinte mal: “Ich akzeptiere das total, aber wenn mein Sohn schwul ist, dann muss er aber normal schwul sein...es gibt es ja zwei Arten von schwul...der Schwule, der ganz normal ist, und der Schwule, der sich voll weiblich verhält. Den normalen akzeptiere ich total, aber den weiblichen nicht.” Da habe ich nachgefragt, den Gedanken weitergesponnen. Er dachte nach und meinte dann: “Doch, ich akzeptiere es, es bleibt ja mein Kind.”


Vielen Dank euch beiden für das Interview!


good to know Magnus Hirschfeld, Namensgeber des Magnus-Hirschfeld-Centurms, hat von 1868 bis 1935 als Arzt, Sexualforscher und Empiriker gearbeitet. Er war Mitbegründer der weltweit ersten Homosexuellen-Bewegung, des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). Nie zuvor gab es eine solche Emanzipationsbewegung, die sich in der Öffentlichkeit gegen Strafgesetze für Homosexualität positioniert und gegen Homophobie gekämpft hat.


Comentários


Os comentários foram desativados.
bottom of page