Thomas Bliwier ist Fachanwalt für Strafrecht in Hamburg. Als Nebenklage-Anwalt hat er die Familie des Opfers Halit Yozgat, der 2006 in seinem Internetcafé in Kassel durch den NSU ermordet wurde, vertreten. Besonders dieser Mord hat viele Fragen über die Rolle des Verfassungsschutzes und von V-Männern aufgeworfen. Im Interview erzählt Bliwier uns von seiner Arbeit und spricht über Aufklärung, Wissen und Nichtwissen.
Cornelius: Herr Bliwier, die zentrale Frage zuerst: Wie lassen sich die Fehler und Verzögerungen der polizeilichen Arbeit im Rahmen des NSU erklären?
Thomas Bliwier: Zum einen lässt es sich auf einen institutionellen Rassismus zurückführen, der dazu geführt hat, dass die entsprechenden eingesetzten Polizei- und Kriminalbeamt*innen zunächst gegen die Familienangehörigen ermittelt haben. Es handelte sich dabei um wirklich üble Ermittlungsmethoden in die Richtung der Opfer und Angehörigen, sodass praktisch keine Hinweise verfolgt wurden – gerade auch in unserem Fall von Halit Yozgat –, dass die Tat von Rechts gekommen sein könnte. Das hat ein Polizeibeamter in dem Verfahren auch so ausgesagt. Rassismus und die Voreingenommenheit sind also Aspekte, weswegen diese Ermittlungen in die falsche Richtung gelaufen sind. Ein weiterer ist die Abschottung des Verfassungsschutzes.
Welche Rolle spielen denn der Verfassungsschutz und die V-Leute bei den Verzögerungen?
Der Verfassungsschutz hat über Jahre hinweg interne Erkenntnisse nicht an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Wir wissen z. B., dass die Täter Mundlos und Böhnhardt schon sehr frühzeitig Raubüberfälle mit einer Schusswaffe begangen haben. Es gab Informationen, dass sich das Trio weiter bewaffnen und flüchten wolle. V-Männer wie Tino Brandt und weitere wussten davon, aber auch das hat nicht dazu geführt, dass der Verfassungsschutz diese Informationen weitergegeben hat. In unserem Fall konnte zudem der V-Mann Andreas Temme, der am Tatort zur Tatzeit war, auf jeden Versuch der Staatsanwaltschaft hin, wegen einer Sperrerklärung nicht vernommen werden.
Wir haben also ein Bündel von Aspekten, womit sich die Fehler und Verzögerungen bei der Aufklärung erklären lassen können. Das hängt auch damit zusammen, dass wir heute Rechtsterrorismus als die größte Bedrohung für unsere Demokratie sehen. Das war jahrelang anders. Damals hat man immer behauptet, dass es der Linksterrorismus sei. Das bedingt natürlich auch eine gewisse Draufsicht auf mögliche Tatverläufe und das kommt dann eben mit unterschiedlichen Aspekten zusammen.
Das heißt, der NSU Komplex hat das Denken über Gefahren für unsere Demokratie verändert?
Das hoffe ich sehr. Ich meine, da mit aller Vorsicht auch einen Stimmungswandel feststellen zu können. Wenn man nämlich überlegt, dass im Prinzip kaum noch eine Woche vergeht, ohne dass nicht rechtsterroristische oder rechtsradikale Gruppierungen entweder verboten oder aufgedeckt werden, sieht man, dass es inzwischen schon eine höhere Sensibilität und Fokus bei den Ermittlungsbehörden gibt.
Das klingt ganz so, als haben die Behörden nachgesteuert.
Ja, ich schätze das in der Tat so ein. Es wird natürlich zu Recht beklagt, dass auch das Münchner Verfahren an einer Stelle der Aufklärung stecken geblieben ist. Das ist vom Senat des Oberlandesgerichts (OLG) in München immer wieder damit begründet worden, dass nicht alles Gegenstand des Strafverfahrens gegen Zschäpe und andere gewesen sei und daher nicht alles in diesem Rahmen aufgeklärt werden kann.
Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, die Hintergründe im Verfahren zu beleuchten, und ich glaube, auch insgesamt ist ein Wandel zu beobachten, dass man jetzt mehr auf Rechts blickt. Es ist natürlich auch ein Unterschied, wenn die Politik die größte Gefahr im Rechtsterrorismus sieht. Das schlägt auch auf die Ermittlungsbehörden.
Wurde denn auch beim Verfassungsschutz nachgesteuert?
Nein, ich glaube nicht. Die Reformen, die angestoßen worden, sind eher halbherzig. Eigentlich hätte man als Konsequenz aus dem NSU-Verfahren V-Leute verbieten müssen. Im Moment ist die Regelung, dass sie keine schwerwiegenden Straftaten begehen dürfen. Das ist nicht handhabbar. Um das Vertrauen in der Szene zu gewinnen, geht das nur mit Mitwirkung, zum Teil an schwersten Straftaten. Das heißt, das einzig Konsequente und Vernünftige wäre gewesen, das V-Mann-Wesen komplett abzuschaffen, weil wir ja nun wirklich gesehen haben, dass die Szene durch V-Leute gezielt aufgebaut und finanziert worden ist. Tino Brandt ist das beste Beispiel dafür.
Wie viel wissen wir denn heute noch nicht?
Wir wissen einiges über die Taten und wir wissen inzwischen, dass Frau Zschäpe rechtskräftig als Mittäterin verurteilt worden ist. Wir wissen jedoch nicht wirklich viel über die Interna des NSU und auch relativ wenig über die Unterstützer-Szene. Insgesamt ist noch viel im Unklaren und vor allem – gerade was unseren Fall angeht – die Mitwirkung oder die Beteiligung des Verfassungsschutzes. Die Akten dazu sind in erheblichem Umfang im Verfassungsamt vorhanden. Diese Unterlagen sind aber für den Zugriff auf die nächsten dreißig Jahre gesperrt. Die Verfassungsschutzbehörden haben verhindert, dass die Unterlagen Prozessgegenstand des Verfahrens werden konnten.
Da ist also noch eine ganze Menge unaufgeklärt und ich gebe mich auch nicht der Illusion hin, dass das irgendwann noch mal aufgeklärt werden könnte. Ich wüsste im Moment nicht, in welchem Zusammenhang das geschehen sollte.
Auch nicht, wenn die Sperrfrist in 30 Jahren endet?
Wer soll das machen? Das ist eine biologische Frage. Wer soll sich im Endeffekt um diese Dinge kümmern? Die jetzigen Akteure werden dann vermutlich aus biologischen Gründen nicht die Möglichkeit haben, sich um diese Dinge zu kümmern, sodass ich befürchte, dass das einfach versandet.
Gibt es Fragen, die Sie persönlich bis heute noch beschäftigen?
Irgendwann schließt man natürlich mit dem Verfahren ab und sagt: gut, das ist jetzt rechtskräftig. Natürlich gibt es aber Aspekte für die Familien der Opfer und mich, die unbefriedigend geblieben sind. Nur können wir in so einem Verfahren lediglich Anträge stellen, das Gericht macht Beschlüsse und fällt dann sein Urteil. Es wurde vom Gericht immer eingewandt, dass ein Strafverfahren nicht für alle offenen Fragen da ist und ja, das stimmt. Im gewissen Sinne sind Strafverfahren dafür da, eine Anklageschrift abzuarbeiten und nicht mehr und nicht weniger. Aber ein bisschen mehr Weitblick, auch auf die Gesamtumstände und staatliches Mitverschulden, hätten wir uns gewünscht.
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