Dr. Frank Golczewski ist pensionierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Er ist 1948 in Polen geboren und als Schuljunge mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland immigriert. Bis heute forscht er zu den Themen Nationalismus und Antisemitismus in Ost- und Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, Polen, Russland/der Sowjetunion und in der Ukraine. Wir haben ihn zur Situation in Osteuropa befragt.
GENZ: Wer sind die beteiligten Akteure in dem Konflikt und welche Ziele verfolgen diese?
Dr. Frank Golczewski: Der aktuelle Konflikt dauert eigentlich schon seit 2014 an. Putin hat vor ihm schon 2007 und 2008 gewarnt, was damals niemand ernst genommen hat. Nach der Flucht des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 nach Russland hat die Russische Föderation die Krim nach einem höchst fragwürdigen Referendum annektiert und im Donez-Industrierevier (Donbass) zwei „Volksrepubliken“ (Donezk und Luhansk) von Mittelsleuten ausrufen lassen. Als die Ukraine diese Gebiete wieder zurückholen wollte, verhinderte Russland das mit eigenen Truppen und mit der Unterstützung pro-russischer Milizen. 2015 wurde in Minsk ein Abkommen geschlossen, das den Konflikt beenden sollte, an die Vereinbarungen hielt sich jedoch keine der beiden Parteien. Tatsächlich scheiterte aber zunächst der russische Plan, über russischsprachige Gebiete (deren Bewohner sich jedoch mehrheitlich als Ukrainer bezeichnen) eine Landverbindung zur Krim und vielleicht auch bis Transnistrien herzustellen.
Um sein Ziel trotzdem zu erreichen, warf der russische Präsident der Ukraine vor, einen „Genozid“ der Donbass-Bewohner zu planen und entwickelte abstruse historische Theorien, die der Ukraine das Existenzrecht als Staat absprechen sollten. Am 24. Februar 2022 griff die russische Armee, die seit 2021 an den ukrainischen Grenzen konzentriert wurde, die Ukraine an. Auch wenn ein russisches Gesetz es verbietet, diesen Angriff als „Krieg“ zu bezeichnen – er soll „militärische Spezialoperation“ heißen – handelt es sich um nichts anderes. Mit einem Angriffskrieg verstößt man jedoch seit 1945 gegen Völkerrecht – und genau das tut Russland…
Russlands Ziel ist es, die Ukraine, die als historischer Teil Russlands angesprochen wird, nicht zu einem demokratischen, nach Westen orientierten, Staat werden zu lassen. Präsident Putin, der im Vorfeld des Überfalls auf die Ukraine in seinem Land auch noch die letzten oppositionellen Medien und Organisationen verboten hat und Politiker/innen und einfache Bürger/innen verhaften lässt, wenn sie gegen den Krieg protestieren, fürchtet eine „westorientierte“ Ukraine als „Anti-Russland“, das zu verhindern sei. Tatsächlich hat er Angst um seine Macht und fürchtet das Beispiel eines demokratischen postsowjetischen, ostslawischen Staates. Um seine machtpolitischen Ziele der eigenen Bevölkerung zu „verkaufen“, die nun keine anderen Informationsmöglichkeiten als seine Staatsmedien mehr hat, behauptet er, die Ukraine sei von „Neonazis“ und „Drogenabhängigen“ regiert, auch der ganze Westen sei verkommen und wolle den Russen ihre traditionellen Werte zersetzen.
Die ukrainische Führung und Armee verteidigt ihren Staat unerwartet gut, im Norden konnte sie eine Einkreisung und Eroberung der Hauptstadt Kiew verhindern, im Süden und Osten konnte Russland zwar Gebiete besetzen, eine Landbrücke zur Krim gibt es schon, aber insgesamt hatten die russischen Politiker mit einem erfolgreicheren Vorgehen gerechnet. Allerdings ist der Krieg noch nicht zu Ende, und die NATO-Staaten, die die Ukraine auch mit Waffen unterstützen, müssen vorsichtig sein, um nicht in einen mit Atomwaffen ausgetragenen Dritten Weltkrieg hineinzuschlittern.
Welche Bedeutung hat der Konflikt für die Europäische Union bzw. was wird und kann sich dadurch in der EU und in Europa verändern?
Nur wenige westeuropäische Politiker hatten mit einer Verschlechterung der Beziehungen mit Russland gerechnet und starke wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut. Da Russland vor allem Rohstoffe (Gas, Öl, Kohle) und landwirtschaftliche Produkte (Getreide, Sonnenblumenkerne) exportiert und mit niedrigen Preisen gelockt hat, haben sich viele Staaten von diesen Lieferungen abhängig gemacht. Auch Deutschland und einige andere EU-Staaten haben sich mit dem Bezug von Gas (bis zu 55 % des Bedarfs) aus Russland und dem Bau der Ostsee-Pipelines in Schwierigkeiten gebracht, und jetzt will man nicht einfach den Bezug abbrechen – es gibt nicht so schnell Ersatz. Der Krieg, der diese Wirtschaftsbeziehungen durch Sanktionen unterbricht, stellt diese Staaten (nicht zuletzt Deutschland) vor das Problem, Ersatzlieferanten zu finden. Auch wenn das gelingt, werden die Preise steigen, was die Inflation antreibt, die jetzt schon von ca. 1 % auf über 7 % gestiegen ist. Damit werden wir uns für dasselbe Geld weniger leisten können. Die Lehre daraus ist, dass Sanktionen nicht nur die anderen treffen, sondern auch einen selber. Andererseits hat der antieuropäische Kurs der russischen Führung auch die europäischen Staaten und die NATO-Mitglieder enger zusammenrücken lassen.
Können Sanktionen wirklich einen Krieg beenden?
Sanktionen wirken, aber sehr langsam. Wenn es nur wenige Schlupflöcher gibt, wie dies etwa für den Iran der Fall ist, dann machen sie sich deutlich bemerkbar – allerdings leidet auch hier die Bevölkerung mehr als die Führung. Russland ist eigentlich sehr reich an Rohstoffen, vor allem aber kann es sich mit China, Indien oder Brasilien Ausweichmärkte in Staaten erschließen, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen. Auch die Maßnahmen gegen die „Oligarchen“ – Menschen, die durch ihre Nähe zu Putin unermesslich reich geworden sind – sind in ihrer Wirkung nicht eindeutig. Uns beeindrucken die beschlagnahmten Yachten vielleicht, aber sie machen nur einen geringen Teil des Oligarchenvermögens aus, das zum größten Teil in anonymen Firmennetzwerken versteckt ist, an das die Behörden kaum herankommen können. Den Krieg beenden können Sanktionen kurzfristig nicht.
Gibt es einen Weg, der langfristig Frieden in Osteuropa sichern kann?
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Dieser Satz aus Schillers Wilhelm Tell passt sehr gut auf die aktuelle Lage. Russland hat mit seinem Angriff auf die keineswegs kriegslüsterne Ukraine das Völkerrecht massiv gebrochen und zahlreiche andere Kriegsverbrechen begangen. Sowohl die NATO als auch das von Russland geführte Verteidigungsbündnis schließen formell Angriffskriege aus. Eigentlich wäre damit der Frieden gesichert. Nun hat aber der russische Präsident die Osterweiterung der NATO und den möglichen Beitritt der Ukraine (der keineswegs sicher ist) als Bedrohung für sein Land und für „Russischsprachige“ ausgegeben und die Führung der Ukraine zu „Neonazis und Drogenabhängigen“ erklärt, vor denen er seine „Landsleute“ in der Ukraine schützen müsse. Anders ausgedrückt: Er hat einen wenig glaubhaften Anlass erfunden, um ein Nachbarland plattmachen zu können. Wenn man so weit von der Realität weg ist, dann kann man kaum mehr mit konventionellen Mitteln (wie etwa Verträgen) den Frieden sichern. Putin hat mehrfach belegt, dass er sich an geschlossene Verträge nicht hält – zuletzt bei der Änderung der Zahlungsmodalitäten für Gas. Das ist sehr bedauerlich, weil es die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zerstört und wir eigentlich geglaubt haben, dass in Europa Probleme nicht mehr mit Krieg angegangen würden. Aber die bisher blockfreien Staaten Schweden und Finnland denken nun über einen NATO-Beitritt nach und Moldau und Kasachstan, wo die Lage der ukrainischen ähnlich ist, müssen auch mit Problemen rechnen. Insofern sind die Aussichten auf langfristigen Frieden nicht gut – vor allem nicht, wenn Putin an seinem geopolitischen Expansionsprogramm zur Wiederherstellung des Imperiums festhält.
Welche Rolle sollte oder muss Deutschland in dem derzeitigen Krieg einnehmen?
Die deutsche Regierung ist nicht zu beneiden: Sie will einerseits der Ukraine helfen, aber andererseits nicht selber in den Krieg hineingezogen werden, der dann ein Krieg zwischen der NATO und Russland wäre und in dem ein Atomwaffeneinsatz nicht ausgeschlossen werden kann. Darauf sind die widersprüchlichen Aktionen der deutschen Politiker, deren Kommunikationsmängel und die Aussagen ukrainischer Politiker zurückzuführen, die natürlich vor allem die Lage ihres Landes sehen und für die Befürchtungen vorsichtigerer Amtsträger*innen kein Verständnis haben. Unsere Regierung hat aber in ihrem Amtseid zugesagt, Schaden vom deutschen Volk zu wenden, sodass die Befürchtungen, dass Deutschland in einen Krieg hineingezogen werden könnte, sie durchaus beunruhigen muss. Daher rührt auch das lange deutsche Beharren auf der Beschränkung auf „Verteidigungswaffen“, denn einem anderen Staat zu helfen, sich gegen eine Aggression zu verteidigen, ist völkerrechtlich als „Nothilfe“ zulässig.
*Das Gespräch wurde im Mai 2022 geführt.
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