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Beständigkeit im Status Quo: Das Sicherheitsgefühl in Taiwan

Das Rauschen des Flugzeugs wird lauter. Die ganze Reisegruppe horcht auf. Das Geräusch kommt näher und wird schließlich zum Dröhnen. Der Tour Guide hat unsere Aufmerksamkeit verloren und alle recken ihre Köpfe gen Himmel, um einen Blick auf den Ursprung des Lärms zu erhaschen. Wir können das Flugobjekt nicht ausmachen und ich merke, wie es kurz unruhig in der Gruppe wird. Wir scheinen alle denselben Gedanken zu haben.

„Is China coming?“, scherzt der Tourguide in den Lärm hinein und spricht damit aus, was wir uns alle in einem kurzen Moment der Panik fragen. Mit der Frage fängt er die allgemeine Aufmerksamkeit wieder ein. Alle wenden den Blick vom Himmel zurück zu unserem taiwanesischen Reiseleiter, der breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Händen dem vorbeifliegenden Flugzeug entgegenlacht.


Ein Land wie kein anderes

Seit 1996 finden in Taiwan demokratische Wahlen statt, es herrscht Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit. Als erstes asiatisches Land führte es 2019 die Ehe für alle ein. Und dennoch hat Taiwan ein Alleinstellungsmerkmal: Kein*e Bundeskanzler*in und kein Bundespräsident haben die Insel je besucht. Taiwan ist kein Mitglied der Vereinten Nationen und wird von der überwiegenden Mehrheit der Staatengemeinschaft nicht als unabhängiger Staat anerkannt.


„Jedes Land auf der Welt muss für sich entscheiden, erkennt es die Volksrepublik China oder die Republik China auf Taiwan an“,

erklärt Karsten Tietz. Er ist seit Sommer 2025 Generaldirektor des Deutschen Instituts Taipei in der Hauptstadt Taiwans. Das Institut fungiert als inoffizielle deutsche Auslandsvertretung und ist dafür verantwortlich, die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Taiwan zu pflegen. „Es gibt 12 zumeist kleinere Staaten, die die Republik China (Taiwan) statt der Volksrepublik China anerkennen. Alle anderen Länder, wie auch Deutschland, haben diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China und entsprechend nicht zu Taiwan.“ Dies sei Konsequenz der deutschen Ein-China-Politik, wonach es nur ein einziges China gebe, welches neben Hong Kong und Macau auch Taiwan umfasse. 


Ein Rückblick in die komplexe Geschichte der Insel zeigt, dass Taiwan von 1683 bis 1895 Teil des chinesischen Kaiserreichs unter der Qing-Dynastie war. Allerdings kontrollierten die Qing nur den westlichen Teil der Insel. Aufgrund des schwer einzunehmenden Geländes und des starken Widerstands der indigenen Bevölkerung hielten es die Qing für nicht lohnenswert, den Osten einzunehmen. Auf die Qing folgten 50 Jahre japanischer Herrschaft in Taiwan, bis diese mit Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls endete. In China selbst brach kurz darauf ein Bürgerkrieg zwischen der nationalistischen Kuomintang (KMT) und den kommunistischen Kräften unter Mao Zedong aus. Als die Kommunisten die Oberhand gewannen, zog sich die KMT nach Taiwan zurück. Seit 1949 wird Taiwan unabhängig von China und Japan regiert und trägt den offiziellen Namen Republik China. Für die kommunistische Führung Chinas gilt die Verlagerung der KMT nach Taiwan bis heute als historischer “Ausreißer”, den es rückgängig machen will. Der chinesische Präsident Xi Jinping betont immer wieder, dass die nationale “Wiedervereinigung” vorangetrieben werden sollte – so auch gegenüber US-Präsident Donald Trump in einem Telefonat im November 2025.


Fotos: Dan Boner


Chinesisch oder Taiwanisch?

„Taiwan ist für China eine unvollendete Angelegenheit, denn es ist der einzige Ort, den sie noch nicht eingenommen haben”, erklärt Professor Min-Hua Huang. „Als Führer Chinas ist es so: Wenn du Taiwan verlierst, die Insel also ein unabhängiger Staat wird, verlierst du damit deine Legitimität in China.“ Huang ist Vorsitzender des Fachbereichs Politikwissenschaft an der National Taiwan University. Seine Vorfahren lassen sich seit über 200 Jahren in Taiwan verorten. Ursprünglich stammt seine Familie aus China. Dass sie sich mittlerweile als taiwanisch fühlen, ist gar keine Frage mehr. „Im Laufe der Zeit hat das Bildungssystem hier gute Arbeit geleistet, um eine taiwanesische Identität zu fördern“, sagt Huang. „So verstehen die Kinder, dass Taiwan Taiwan und China China ist.“


Für die 27-jährigen Taiwanerinnen Sophia und Chelsea ist klar: Sie können sich zwar mit der chinesischen Kultur und Sprache, nicht aber mit Land und Staat identifizieren. „In unserer Generation möchte niemand chinesisch genannt werden“, stellt Sophia klar.


Sicherheit in der Unsicherheit: der Status Quo

Die Frage nach den Beziehungen zu China bestimmt seit Jahren den Politdiskurs, das Wahlverhalten der Bevölkerung und die Gespräche innerhalb von Familien und zwischen Freund*innen. Der Rat für Festlandangelegenheiten führt regelmäßig eine Umfrage zu den Beziehungen zwischen Taiwan und China durch. Im August 2025 sprachen sich 86,4 Prozent der Befragten dafür aus, den “Status Quo im Großen und Ganzen” beizubehalten. Damit stellen sie sich sowohl gegen eine Wiedervereinigung mit der Volksrepublik China wie auch gegen eine Erklärung der Unabhängigkeit. Die Taiwaner*innen finden also Sicherheit im Status Quo, weil sie somit die Sicherheit ihres eigenen Landes nicht gefährden. Taiwans größter sicherheitspolitischer Partner sind die USA. Washington hält ebenfalls am Status Quo fest und warnt vor jeder Veränderung durch Peking. Zugleich unterstützen die USA Taiwan mit Waffenlieferungen – ein Balanceakt zwischen Rückhalt und Abschreckung.


„Der Status Quo ist der Mittelweg, ohne eine militärische Gefahr einzugehen“, sagt Huang. „Aber wenn Taiwan die Chance hätte, ohne das Eingreifen von China unabhängig zu werden, würden wir das tun.“ Für die Menschen in Taiwan stehe der Erhalt des Status Quo eindeutig über einer Wiedervereinigung mit China. „Hier lieben die Menschen ihre Freiheit, ihre Kultur und Demokratie und die wollen sie nicht verlieren“, erklärt der Generaldirektor Karsten Tietz. „Deswegen widersetzen sie sich einer Wiedervereinigung mit China so stark, weil das aus ihrer Sicht den Verlust aller Werte und Freiheiten bedeutet, wie es in Hong Kong passiert ist.“

Sophia und Chelsea sehen die Diskussion über die Unabhängigkeit Taiwans etwas anders. „Ich habe die Frage um ein unabhängiges Taiwan nie verstanden“, meint Chelsea. „Wir waren immer unabhängig, ohne eine direkte Präsenz von China zu fühlen.“


Fotos: Felicia Holtkamp


Is China coming?

Auch wenn China nicht unbedingt im Alltag der Taiwaner*innen präsent ist, gibt es dennoch eine tägliche Auseinandersetzung mit dem Land auf der anderen Seite der Taiwanstraße, wie die Meerenge zwischen China und Taiwan heißt. „Es gibt jetzt schon jeden Tag 2,5 Millionen Cyberangriffe von China auf Taiwan“, berichtet Tietz von der ständigen Infiltration. „Irgendwann könnte China weiter eskalieren, wie Russland es in der Ukraine getan hat. Dann könnte es auch unangenehmer werden.“


Min-Hua Huang nennt zwei Szenarien, unter denen China Taiwan angreifen würde. „Wenn unsere Verteidigung zu einem bestimmten Level absinken würde, wäre es zu einfach für China, Taiwan einzunehmen, und dann würden sie es auch tun“, erklärt Huang. Deswegen besteht in Taiwan eine einjährige Wehrpflicht für junge Männer. 3,32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für Verteidigung ausgegeben – bis 2030 sollen es sogar fünf Prozent werden. Das zweite Szenario für einen Angriff sei eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans.


Sicherheit in der Unsicherheit

„Aber auch wenn es von außen ziemlich düster aussieht, ist die Situation im Inneren relativ sicher“, beschwichtigt Huang. Karsten Tietz betont ebenfalls, dass aktuell kein Grund zur Sorge bestünde. „Im Moment besteht in Taiwan keine akute Gefahr – weder als Tourist noch als Diplomat mit zwei kleinen Kindern noch als Austauschstudierender.“ Sollte sich die Situation dennoch zuspitzen, so können sich alle Deutschen über die ständig aktualisierten Sicherheitshinweise des Auswärtiges Amtes zu Taiwan informieren, wie man sich am besten verhält.


„Ihr Westler macht uns die Gefahr stärker bewusst, als wir sie eigentlich wahrnehmen“,

meint Chelsea auf Nachfrage von GENZ. „Wir spüren diese unmittelbare Bedrohung nicht.“ Einer ständigen Gefahr, im Rahmen von vermehrten Militärmanövern Chinas ausgesetzt zu sein, lasse sie eher abstumpfen. „Was auch immer passieren wird, wird passieren – und wenn es passiert, werde ich mich dann damit befassen“, meint auch Sophia.


Unser Tourguide steht sinnbildlich für die Haltung vieler Taiwaner*innen: Mit fest in den Boden gestemmten Beinen verkörpert er das Bewusstsein für die Gefahr und zugleich das Vertrauen in die eigene Sicherheit. Die in die Hüften gestützten Arme stehen für die Bereitschaft, das demokratische Taiwan zu verteidigen. Und das Lachen zeigt, dass die Taiwaner*innen sich in der Gefahr eingerichtet haben – sie sind vorbereitet, aber lassen die Angst nicht ihr Leben bestimmen.


DIe Taiwanerinnen Chelsea und Sofia im Gespräch mit GENZ.
Die Taiwanerinnen Chelsea und Sofia im Gespräch mit GENZ.

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