Ob in München, Berlin oder in unserem Hamburg, „Naar links! Naar rechts!“, tönte es während der Europameisterschaft in jeder Stadt, in der die niederländische Nationalmannschaft auflief. Die niederländischen Fußballanhänger:innen hatten im Sommer 2024 einen neuen Fangesang kreiert, bei dem sie gemeinsam lauthals grölend erst nach links und dann nach rechts sprangen. In welche Richtung es im nächsten Moment gehen würde, das war für die Oranje-Fans und alle, die sich das Spektakel live oder auf diversen Social-Media-Plattformen anschauten, nicht schwer zu erraten.
Die Europameisterschaft im eigenen Land war nicht das einzige Event, das der Sommer 2024 zu bieten hatte. Nur einen Monat zuvor traten ebenfalls verschiedenste Teams aus Europa im Wettkampf gegeneinander an. Besser bekannt als „Europawahl“ ging es hier nicht etwa Fußballmannschaften, sondern politischen Parteien darum, bestmöglich abzuschneiden. Seitdem die Ergebnisse der Wahl feststehen, dürften sich Politikinter-essierte weltweit eine Frage stellen, die sich beim neuen niederländischen Volkstanz deutlich einfacher beantworten ließ: nach links oder nach rechts? Wohin geht es mit der Europäischen Union?
Und wenngleich Prognosen bekanntermaßen schwierig sind (besonders dann, wenn sie die Zukunft betreffen), so lohnt sich doch ein Blick auf das, was wir in den kommenden fünf Jahren von der EU erwarten könnten. Schließlich hat es die Europäische Union längst in unser aller Leben geschafft und spielt eine wichtige Rolle, nicht zuletzt auch in der deutschen Gesetzgebung.
Nach rechts? Die neue Sitzverteilung im Europäischen Parlament
Manche sprechen von einem „Rechtsruck in Europa“ und stellen schon Spekulationen darüber an, wie eine „rechte Zukunft“ in der EU aussehen könnte. Tanzt die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren nach rechts? Das könnte man zumindest meinen, wenn man einen Blick auf die Wahlergebnisse zum Europaparlament wirft. Schließlich haben rechte Parteien, was ihren Stimmanteil angeht, deutlich zugelegt und kommen damit gestärkt aus der Wahl hervor: Kamen Fraktionen am rechten Rand des Parlaments vor der Wahl 2024 noch auf insgesamt 118 von 751 Sitzen, nehmen sie nun 182 von 720 Plätzen ein. Und nicht nur das; mit den „Patrioten für Europa“ gibt es in Zukunft eine große, neue rechte Fraktion im Europäischen Parlament.
Grund genug also, um zu fragen, was die Forderungen und Vorstellungen der neuen erstarkten Rechten überhaupt sind. So uneinig sie sich sind, was ihren Blick auf die Unterstützung der Ukraine angeht, so geschlossen stehen rechte Parteien bei den Themen Klimawandel, Asyl- und Migrationspolitik und der Ausrichtung der EU. Das ergibt eine Analyse des Tagesspiegels und seiner Partner-Redaktionen. So sehen die rechten Parteien beispielsweise den Green Deal vor allem als eine unzulässige Maßnahme, Einfluss auf die Wirtschaft zu nehmen. Zuwanderung lehnen sie parteienübergreifend ab; verbunden mit Forderungen nach einer stärkeren Begrenzung des Asylrechts und dem Einsatz von mehr Frontex-Kräften. Und auch der Europäischen Union selbst stehen sie, um es vorsichtig auszudrücken, kritisch gegenüber: Viele Rechtsaußenparteien fordern eine Wiedererstarkung der Nationalstaaten, manche gar ganz konkret das Abschaffen des EU-Parlaments oder gleich der ganzen Europäischen Union.
Nach links? Eine stabile Mitte und die Rolle der Europäischen Kommission
Spielt die EU künftig also überwiegend über den rechten Flügel? Und stehen Gesetze, wie oben beschrieben, in den nächsten fünf Jahren täglich auf der Abstimmungsagenda? So eindeutig ist es dann doch nicht. Denn auch zusammen bringt es der rechte Rand vorerst nicht auf eine Mehrheit. Zwar gehen rechte Parteien gestärkt aus der Wahl hervor, alles in allem haben wir es aber mit einer stabilen (wenngleich nach rechts verschobenen) Mitte im EU-Parlament zu tun.
Und dann gibt es da noch etwas anderes zu bedenken: die Rollen und Aufgaben des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission. Was klingt wie eine Doppelstunde Politikunterricht, nach der man gleich den schnellsten Zug nach Hause erwischen möchte, ist gar nicht so unwichtig, wenn wir uns fragen, was wir in den nächsten Jahren von der EU erwarten dürften. Denn anders als der Deutsche Bundestag hat das EU-Parlament gar kein Recht dazu, Gesetze vorzuschlagen. Es muss zwar Gesetzen zustimmen, damit diese umgesetzt werden. Das sogenannte Initiativrecht hat in der EU aber ausschließlich die Europäische Kommission.
An dessen Spitze wurde im Juli zum zweiten Mal Ursula von der Leyen gewählt. Und dafür brauchte sie die Mehrheit des Parlaments. Ein zweiter Blick lohnt sich also, und zwar auf die Parteien, die von der Leyen ihre zweite Amtszeit in Brüssel bescherten. So bekam sie bei ihrer ersten Wahl vor fünf Jahren nur von den Fraktionen der Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokraten und der Liberalen das politische Jawort. Jetzt, fünf Jahre später, gesellen sich nach eigenen Angaben auch 45 von den 53 Grünen-Abgeordneten zu diesem Klub; ohne diese Grünen-Stimmen wäre von der Leyen durchgefallen. In diesem Abstimmungsverhalten sehen somit einige gar eine Mehrheit für die Kommissionspräsidentin, die sich nach links ausgedehnt hat.
Nach links? Nach rechts? Na was denn jetzt?
Ein Parlament, das sich nach rechts verschoben hat und eine Mehrheit für die Kommissionspräsidentin, in der jetzt noch eine linke Partei mitspielt? Na wohin geht’s denn jetzt? Zeit, Schluss zu machen mit den Lagerspielchen und Spekulationen: Butter bei die Fische!
Fragen wir also die Frau, die am besten wissen sollte, wo es in den nächsten fünf Jahren hingeht, die Spielmacherin in Sachen Gesetzen. In ihrer Bewerbungsrede, die sie kurz vor ihrer Wiederwahl gehalten hatte, erklärte Ursula von der Leyen, wie es mit ihr, als Spielführerin, weitergehen soll und wie sie die EU in den nächsten fünf Jahren gestalten will. Parallel dazu veröffentlichte die Kommission auf knackigen 42 Seiten von der Leyens Politische Leitlinien für die Jahre 2024–2029. Infomaterial genug also, um sich einen ersten Eindruck von der Zukunft Europas zu verschaffen. Vor allem drei Schlagwörter finden sich in von der Leyens Rede und ihren Leitlinien immer wieder: Wohlstand, Sicherheit und Lebensqualität.
Wohlstand. „Unsere oberste Priorität sind Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit“, erklärt die Kommissionspräsidentin gleich zu Beginn ihrer Rede. Das heißt für von der Leyen konkret: weniger Bürokratie und schnellere Genehmigungsverfahren. In Zukunft sollen Unternehmen auch weniger stark dazu verpflichtet sein, Berichte vorzulegen. Dazu könnte zum Beispiel die Berichterstattung über die Nachhaltigkeit von Firmen zählen. In den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit möchte von der Leyen außerdem einen „Clean Industrial Deal“ vorschlagen, mit dem Investitionen und Innovation erleichtert und Planungssicherheit gefördert werden soll. Mit ihrem Projekt versuche sie, „Klimaschutz und eine gesunde Wirtschaft unter einen Hut“ zu bekommen. Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang auch das Zauberwörtchen Technologieneutralität, ohne die nach Meinung der Kommissionspräsidentin die Klimaziele nicht erreicht werden könnten. Besonders hellhörig kann man da beim Thema Auto werden. Denn eigentlich war im März 2023 vereinbart worden, dass ab 2035 in der EU nur noch Neuwagen zugelassen werden dürfen, die kein klimaschädliches CO2 ausstoßen. In den vorgestellten Leitlinien heißt es nun, dass von der Leyen für eine Ausnahme für sogenannte E-Fuels eintrete.
Sicherheit. Ganz oben auf von der Leyens Liste steht außerdem das Thema Sicherheit. Hier geht es ihr vor allem um ein geeinteres Auftreten und darum, mehr Ressourcen in die Verteidigung Europas zu stecken: „Wir müssen mehr investieren. Wir müssen gemeinsam investieren.“ Die Kommissionspräsidentin spricht sich hier zum Beispiel für ein „European Air Shield“ aus - ein umfassendes Luftverteidigungssystem für die EU. Zusätzlich möchte sie die europäische Polizeibehörde – Europol – stärken, unter anderem mit einer Verdopplung des Personals. Unter das Thema Sicherheit fallen für von der Leyen aber auch die Bereiche Migration und Asyl. Das Personal von Frontex, der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache, möchte sie auf 30.000 verdreifachen. Außerdem sollen Rückführungen von Menschen, die nicht in der EU bleiben dürfen, schneller und einfacher umgesetzt werden; dafür möchte die Kommissionspräsidentin einen „neuen gemeinsamen Ansatz für Rückführungen“ ausarbeiten.
Lebensqualität. Zugegeben, einen viel schwammigeren Begriff für politische Ziele kann man sich wohl kaum aussuchen. Vermutlich wird kaum jemand etwas gegen eine bessere Lebensqualität einzuwenden haben. Konkret spricht von der Leyen in diesem Zusammenhang vor allem über die Landwirtschaft. Sie möchte in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit eine „Vision für Landwirtschaft und Ernährung“ vorlegen. Hier geht es der Kommissionspräsidentin einerseits um ein faires Einkommen für Landwirt:innen; und andererseits darum, solche zu belohnen, „die mit der Natur arbeiten, unsere biologische Vielfalt und unsere natürlichen Ökosysteme erhalten“.
Für uns Jüngere wohl besonders interessant im Blick zu behalten: Von der Leyen spricht sich dafür aus, das Erasmus+ -Programm für junge Menschen (zum Beispiel in der Ausbildung oder im Studium) zu stärken. Mit diesem Programm werden vor allem Austausche in andere EU-Länder unterstützt.
Beim Thema Klimaschutz liest sich die Infobroschüre der Kommissionspräsidentin eher wie ein „weiter so“ und nicht wie große Sprünge vorwärts. Hier geht es von der Leyen zum einen um die Umsetzung des Green Deals und zum anderen um „Klimaresilienz und -vorsorge“. Von der Leyen möchte einen „europäischen Plan zur Anpassung an den Klimawandel“ ins Leben rufen. Mit diesem Plan möchte sie zum Beispiel Frühwarnsysteme verbessern und die Sicherheit der Wasserversorgung in Europa stärken.
A Game of Votes: auf der Suche nach Mehrheiten
Kopiert Ursula von der Leyen jetzt also nur noch die passenden Passsagen aus ihrer Rede und ihren Leitlinien und fügt sie in die europäischen Gesetzbücher ein? Wie eine Präsentation, die man last minute in der Pause vor der Schulstunde „vorbereitet“ hat. Sehen die nächsten fünf Jahre in der EU also so aus, wie sie oben beschrieben sind? So leicht ist das Ganze dann doch nicht. Denn damit etwas in der Europäischen Union zum Gesetz wird, ist es ein langer Weg. Und hier dürften auch die Lagerspielchen wieder wichtig werden, die wir doch eigentlich verwerfen wollten. Um Gesetze in der EU zu verabschieden, braucht es nämlich (unter anderem) die Mehrheit im EU-Parlament. Und für diese wird sich von der Leyen immer wieder neu auf die Suche begeben müssen. Und vielleicht wird es die Kommissionspräsidentin den niederländischen Fans gleichtun und tanzen: mal nach links, mal nach rechts.
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(1) König, T., Mäder, 2008: Das Regieren jenseits des Nationalstaates und der Mythos einer 80-Prozent-Europäisierung in Deutschland, Politische Vierteljahresschrift, Volume 49, S. 438-463.
(2,4) Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2024: Rechtsruck in Europa, online, lpb-bw.de [02.08.2024].
(3) Tagesspiegel, 2024: Rechte Zukunft? Das sind die rechten Pläne für Europa, online, tagesspiegel.de [05.08.2024].
(5) Tagesschau, 2024: Rechtsfraktion "Patrioten für Europa": Die neue Nummer drei im EU-Parlament, online,
tagesschau.de [10.08.2024].
(6) Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2024: Europawahl 2024 – Ergebnisse, online,
lpb-bw.de [07.08.2024].
(7) Europäisches Parlament, 2020: Initiativrecht des Europäischen Parlaments, online, europarl.europa.eu [09.08.2024].
(8) Europäische Union, 2024: Europäische Kommission, online, european-union.europa.eu [07.08.2024].
(9) Süddeutsche Zeitung, 2024: Das schwarz-grüne Spiel der Macht, online, sueddeutsche.de [06.08.2024].
(10) Deutschlandfunk, 2024: Von der Leyen erneut zur Kommissionspräsidentin gewählt, online, deutschlandfunk.de [10.08.2024].
(11) Euronews, 2024: Wahl von Ursula von der Leyen: Wer für und wer gegen sie gestimmt hat, online, euronews.com [10.08.2024].
(12, 14, 15, 17) Europäische Kommission, 2024: Erklärung von Ursula von der Leyen, Kandidatin für eine zweite Amtszeit 2024-2029, bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, online, ec.europa.eu [06.08.2024].
(13, 19, 20, 21, 22, 23) Europäische Kommission, 2024: Europa hat die Wahl: Politische Leitlinien für die nächste Europäische Kommission 2024-2029, online, commission.europa.eu [07.08.2024].
(16) ZDF heute, 2024: Von der Leyen vom EU-Parlament wiedergewählt, online, zdf.de [06.08.2024].
(18) Frontex ist eine Einrichtung der Europäischen Union, die für den Schutz der EU-Außengrenzen zuständig ist. Ihre Hauptaufgabe ist es, Migrationsbewegungen zu steuern. (Quelle: Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2024: Frontex: Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, online, bmi.bund.de [02.09.2024].
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