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Ihr Name ist Semra Ertan

Semra Ertan war Poetin, Arbeiterin und politische Aktivistin. Am 26. Mai 1957 wird sie in der türkischen Hafenstadt Mersin geboren. Sie absolviert die Grund- und Realschule in der Türkei und zieht 1971 zu ihren Eltern nach Kiel. Diese kamen einige Jahre zuvor als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland.


Es ist der 07. November 1981 als Semra Ertan ein Gedicht mit dem Titel „Mein Name ist Ausländer/Benim Adım Yabancı“ schreibt. Darin beschreibt das Lyrische Ich, dass es zum Arbeiten aus der Türkei nach Deutschland kam und wie unwichtig dabei der eigene Name und Charakter wurden. Das Individuum wird unter dem Sammelbegriff „Ausländer“ in einer anonymen Masse unsichtbar gemacht.

Zu Beginn heißt es im Gedicht:


Mein Name ist Ausländer,/ Ich arbeite hier,/ Ich weiß, wie ich arbeite,/ Ob die Deutschen es auch wissen?/ Meine Arbeit ist schwer,/ Meine Arbeit ist schmutzig./ Das gefällt mir nicht, sage ich./ „Wenn dir die Arbeit nicht gefällt, Geh in deine Heimat“, sagen sie.
Benim adım yabancı/ Burada çalışıyor/ Nasıl çalıştığımı biliyorum/ Almanlar da biliyor/ İşim ağır/ İşim pis/ Beğenmeyince/ Söylüyorum/ “Beğenmezsen dön vatanına” diyorlar

Was bringt einen Menschen dazu, solche Zeilen zu verfassen? Eine zeitliche Einordnung des Entstehungsjahrs des Gedichts zeigt, dass es sich bei dem kritischen Blick der Dichterin keineswegs nur um eine subjektive Wahrnehmung handelt. Denn die Ablehnung gegenüber als türkisch gelesenen Menschen erreicht in den 1980er-Jahren einen sichtbaren Höhepunkt. Ausdruck findet sie beispielsweise in der Gründung der „Hamburger Liste für Ausländerstopp“, welche türkische Arbeitsmigrant*innen für gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und knappen Wohnraum verantwortlich macht. Diese von ehemaligen NPD-Funktionären gegründete Partei tritt 1982 bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg an, wo Semra Ertan mittlerweile lebt. In ganz Deutschland kommt es in dieser Zeit zu Brand- und Sprengstoffanschlägen gegen türkische Geschäfte, Einrichtungen und Wohnungen.


Die Diskriminierungen, die Semra Ertan erlebt, sind intersektional – sie überlagern sich also gegenseitig. Sie wird benachteiligt, weil sie keine Deutsche ist. Sie erfährt Ablehnung, weil sie eine Frau ist. Und auch innerhalb der türkischen Community wird sie ausgegrenzt, weil sie Teil der arabischsprachigen alevitischen Minderheit ist. Semra Ertan fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Und beginnt, sich gegen diese Umstände zu wehren. Sie nimmt an Demonstrationen teil und dolmetscht ehrenamtlich bei Behördengängen für Nichtdeutschsprachige. Das Schreiben wird ebenfalls zu ihrer Art des Aktivismus. In ihren Gedichten richtet sich die Autorin gegen Rassismus, Sexismus, Klassismus und diskriminierende Zuschreibungen.

Und immer wieder appelliert sie an Solidarität und den Mut zum Widerstand. So auch in ihrem Werk „Ratschlag/ Öğüt “ (Auszug).


Solange ihr nicht erschöpft seid, / Solange ihr den Mut nicht verliert, / Seid ihr stark. / Solange der Feind nicht besiegt, / Und der Hass nicht vergeht, / Werdet ihr Widerstand leisten.
Bilin ki/ Yılgınlık getirmedikçe/ Cesaretini yitirmedikçe/ Bilin ki/ Güçlüsünüz./ Bilin ki/ Düşman ezilmedikçe/ Nefret eksilmedikçe/ Bilin ki/ Çok direneceksiniz

Doch im Jahr 1982 zieht Semra Ertan schließlich Konsequenzen aus der alltäglichen Diskriminierung. Sie ist verzweifelt und opfert dem Kampf gegen Rassismus und diskriminierende Zuschreibungen ihr Leben. In einem Anruf beim NDR und ZDF kündigt sie ihren Suizid mit den Worten an: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren.“


Am 24. Mai 1982 verbrennt sich Semra Ertan an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße/Detlev-Bremer-Straße auf St. Pauli öffentlich selbst. Nach zwei Tagen im Koma verstirbt sie an den Folgen ihrer Verbrennungen. Es ist der Tag ihres 25. Geburtstags.

Lange ist Semra Ertans Werk in Deutschland weitgehend unbekannt. Das ändert sich 2018, als ihre Schwester Zühal Bilir-Meier und deren Tochter Cana die Initiative in Gedenken an Semra Ertan gründen und Gedenkveranstaltungen in Hamburg organisieren. Es sind auch diese beiden Frauen, die aus den etwa 350 hinterbliebenen Gedichten 82 auswählen und im Dezember 2020 den zweisprachigen Gedichtband „Mein Name ist Ausländer/Benim Adım Yabancı“ herausbringen. Noch zu ihren Lebzeiten wünscht sich Semra Ertan die Veröffentlichung ihrer Werke. Doch weil sie keinen Verlag für eine Publikation findet, kommt es nicht dazu. In Anbetracht der Tatsache, dass die Gedichte nun vier Jahrzehnte in einer Kiste lagen und erst jetzt veröffentlicht werden konnten, werfen Zühal und Cana Bilir-Meier zurecht die Frage auf, wie viele Archive von anderen migrantischen Künstler*innen wohl verloren gegangen sind, weil ihnen Blick und Gehör verwehrt wurde. Als ich das erste Mal ein Gedicht von Semra Ertan las, war ich beeindruckt. Beeindruckt von ihrem Hinterfragen geltender Normen und von ihrem Kampf für eine gerechtere Welt. Beim Schreiben dieses Textes stelle ich mir zahlreiche Fragen: Gäbe es weniger rassistische Zuschreibungen, wären Werke wie jenes von Semra Ertan schon in den 1980er-Jahren veröffentlicht worden? Was bewirkt ihre Zugänglichkeit im Einwanderungsland Deutschland heute? Semra Ertan war 25, als sie starb. Ich bin 25. Warum ist es für mich einfacher, diesen Text zu veröffentlichen, als es für Semra Ertan gewesen wäre? Welche Verantwortung trage ich als Schreibende, um keine stigmatisierenden Narrative zu bedienen? Und: Wie werde ich Verbündete, um als Teil der weißdeutschen Mehrheitsgesellschaft zu verhindern, dass sich die tragische Geschichte von Semra Ertan wiederholt?


Semra Ertan hat uns ein reiches und bereicherndes künstlerisches Erbe hinterlassen, das durch die Veröffentlichung ihres Gedichtbandes nun endlich sichtbar ist. Aus dem Talmud zitiert die Initiative in Gedenken an Semra Ertan: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“. Damit Semra Ertan nicht vergessen wird und ihr Werk sichtbar bleibt, fordert die Initiative eine Gedenktafel und die Umbenennung einer Straße oder eines Platzes zu ihren Ehren. Dies ist bisher noch nicht geschehen.


 


Mehr Werke von Semra Ertan findest du im Gedichtband, erschienen bei Edition

Assemblage, 2020.






 

Quellen




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