Am 27. Juni 2001 fallen Schüsse in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld: Drei davon treffen Süleyman Taşköprü in den Kopf. Der 31-Jährige, der gerade im Laden seines Vaters arbeitet, stirbt an Ort und Stelle. Lange tappen die Ermittler*innen im Dunkeln. Sie gehen davon aus, dass Süleyman Taşköprü in kriminelle Machenschaften verwickelt war und sich jemand an ihm rächen wollte. In den Ermittlungen fallen Worte wie „Drogengeschäfte“, „Rotlichtmilieu“ oder „Schutzgelderpressung“. 2011, also zehn Jahre nach dem Mord, wird klar: Süleyman Taşköprü ist eines von neun Opfern der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Der Mord an Taşköprü: Gezielt rassistisch. Seitdem steht die Polizei in der Kritik, rechtsextreme Terrorakte verharmlost zu haben. Bis heute ist der Wunsch nach restloser Aufklärung vonseiten der Opfer riesig. Der NSU-Untersuchungsausschuss und auch die Nebenklagevertreter sprechen dabei von „schweren behördlichen Versäumnissen und Fehlern“ und von „großen Staatsversagen und einem Versagen der Behörden“.1,2 Der NSU spielt daher für die Sicherheitsbehörden, aber auch die Bundesrepublik Deutschland eine bedeutende Rolle.
DIE MORDSERIE DES NSU
Der NSU, das sind im Kern mutmaßlich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die drei wachsen Anfang der 90er gemeinsam in Jena auf und sind früh Teil der rechtsextremen Jugendkultur. 1996 – also vier Jahre vor ihrem ersten bekannten Mord – basteln sie Bomben und verschicken Fake-Sprengsätze. Schon jetzt fliegen sie auf und die Polizei untersucht ihre Wohnungen. Ermittler*innen finden Beweise dafür, dass die drei für die verschickten Fake-Sprengsätze verantwortlich sind, doch Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos können fliehen.
Das Trio taucht ab jetzt unter: Sie finanzieren durch Banküberfälle ihr Leben und ihre Terroranschläge. Am 09. September 2000 morden Mundlos und Böhnhardt dann das erste Mal nachweislich: Sie erschießen Enver Şimşek, der in Nürnberg Blumen verkauft, auf offener Straße. Ein Jahr später tötet das Trio in Nürnberg den Schneider Abdurrahim Özüdoğru und ein paar Monate darauf in München den Obst- und Gemüsehändler Habil Kılıç. Im selben Jahr ermorden Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos auch Süleyman Taşköprü in der Schützenstraße, hier in Hamburg.
Im Juni 2004 zündet der NSU eine Nagelbombe in der Keupstraße in Köln – dort befinden sich viele türkische Geschäfte. Insgesamt werden 22 Menschen teilweise lebensgefährlich verletzt. Bis 2007 mordet der NSU weiter: Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter fallen dem rechtsextremen Terror zum Opfer.
Die Polizei vermutet weiterhin, dass kriminelle Banden hinter den Attentaten stehen würden und es kein rechtsextremes Motiv gibt. Dies kritisiert auch der spätere Untersuchungsausschuss scharf. Sie hielten am Tatmotiv der „organisierten Kriminalität“ fest, obwohl die „Spur in diese Richtung ergebnislos blieb. (...) Die wenigen Merkmale, die tatsächlich alle Opfer gemeinsam haben […], konnten sie mit keiner bekannten kriminellen Organisation in Konflikt bringen. Nur eine rassistische Tatmotivation traf tatsächlich auf alle Opfer zu.“2 Doch die verantwortlichen Personen hielten an ihrer Theorie fest und schleusten nun sogar verdeckte Ermittler*innen ins Umfeld der Familien ein. Auch die Presse sieht die Täter*innen im Umfeld der Opfer und betitelt die Taten als „Döner-Morde“.
DIE ENTTARNUNG DES TRIOS
Erst 2011 stellt sich heraus, dass der Fokus von Polizei und Presse völlig falsch gesetzt war: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe enttarnen sich selbst. Nach einem Banküberfall ist die Polizei Böhnhardt und Mundlos auf der Spur. Bei ihrer Flucht stecken die beiden Terroristen ein Wohnmobil in Brand und erschießen sich darin. Währenddessen zündet Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Zwickau an – vermutlich, um Beweise zu vernichten – und stellt sich kurz darauf bei der Polizei.
Erst jetzt sichert die Polizei Beweise, die zeigen, die Morde der vergangenen Jahre waren rechtsextremistisch motiviert. Neben Mordwaffen findet die Spurensicherung auch ein 15-minütiges Bekennervideo, in dem der NSU mit seinen Verbrechen prahlt.
Schon bevor der Prozess gegen Zschäpe beginnt, werden deshalb die Sicherheitsbehörden kritisiert. Im Bundestag gibt es 2012 einen Untersuchungsausschuss. Aus dem Abschlussbericht wird klar: Spuren, die auf rechten Terror hingedeutet hatten, waren nicht ausreichend verfolgt worden, Hinweise von V-Leuten wurden nicht weitergegeben, wichtige Akten vernichtet. Sprich: Es wurden schwere Fehler gemacht. Fehler, die bis heute nicht vollständig aufgearbeitet wurden. Zudem gab es Untersuchungsausschüsse in einigen Städten, in denen die Attentate verübt wurden – Berlin, Dresden, Erfurt, München. In Hamburg gab es keinen.
DER PROZESS
Mehr als fünf Jahre lang dauert der Prozess. Neben Beate Zschäpe gibt es mit André E., Holger G., Carsten S. und Ralf Wohlleben noch weitere Angeklagte, die dem Trio beim Morden geholfen haben sollen. Zschäpe wird zu lebenslanger Haft verurteilt, die NSU-Helfer müssen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren ins Gefängnis. Viele finden diese Strafen nicht hart genug. Außerdem fehlt in der Bevölkerung eine tiefgehende Besprechung und Reflexion, wie viele Fehler über Jahre hinweg geschehen sind, die eine schnellere Aufklärung verzögert haben. Und auch Angehörige der Opfer sind unzufrieden mit dem Prozess. Zu viele Fragen über den NSU und mögliche Mittäter*innen sind noch offen. Die Staatsanwaltschaft weist schon zum Prozessbeginn Beweisanträge der Angehörigen ab, in denen diese fordern, dass mehr Verdächtige aus dem rechtsextremen Milieu befragt werden sollen. Die Staatsanwaltschaft sagt, der Prozess sei kein Ort für die Suche nach weiteren NSU-Helfer*innen.
DER BITTERE NACHGESCHMACK
Seitdem der Prozess um den NSU abgeschlossen ist, haben sich viele Initiativen gebildet, die mehr Gerechtigkeit fordern – für die Opfer, aber auch für die Angehörigen. Das Projekt „Kein Schlussstrich“ arbeitet zum Beispiel in 15 Städten mit Theatern zusammen, um auf die rassistischen Morde und schweren Fehler während der Ermittlungen aufmerksam zu machen. Das Bündnis „NSU-Watch“ hat den NSU-Prozess beobachtet und veröffentlicht bis heute Analysen und Recherchen dazu. Das Projekt „Offener Prozess“ möchte die NSU-Verbrechen in Sachsen so aufarbeiten, dass sie für ein breites Publikum verständlich sind. Neben diesen und anderen Projekten machen auch Zeitungen und Dokumentationen inzwischen immer wieder darauf aufmerksam, wie sehr die Behörden versagt haben – die Ermittlungen gegen damals Verdächtigte wurden bis heute nicht wieder aufgenommen.
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