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AutorenbildElisabeth Albrecht

Deutsch–deutsche Einheit: 34 Jahre nach der Wende und immer noch kein Ende

Vorab: Die Begriffe „Ostdeutsche“ und „Westdeutsche“ sind in diesem Beitrag jeweils in einer Gruppe zusammengefasst obwohl es natürlich nicht „den Ostdeutschen“ gibt, sondern es sich dabei um eine breite Masse handelt, in der jeder Einzelne individuelle Erfahrungen macht, die seine Identität prägen. Der Einfachheit halber werden sie hier aber unter der Bezeichnung vereinigt.


Ostdeutschland stärken – dieses Bestreben äußerte die SPD im Zuge des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2021. Nur ein paar Monate später formulierte die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel, die „innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden“. (1) Unter dem Stichwort „innere Einheit“ lässt sich der Prozess zusammenfassen, der zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sowie eines gesellschaftlichen Zusammenhaltes zwischen Ost- und Westdeutschland nötig ist. (2)

Doch wie ist es möglich, dass dies 34 Jahre nach dem Mauerfall überhaupt noch angestrebt werden muss? Inwieweit wurden die Vorhaben der derzeitigen Bundesregierung innerhalb des letzten Jahres umgesetzt und welche Rolle nimmt unsere Generation Z dabei ein?


Der Blick auf Politik, Wirtschaft und Wissenschaft verrät, warum das Thema noch heute aktuell ist: Im 17-köpfigen Kabinett des Bundeskanzlers gibt es nur zwei ostdeutsche Ministerinnen, und es erhalten immer weniger ostdeutsche Politiker:innen Spitzenpositionen: So verringerte sich der Anteil der ostdeutschen Regierungsmitglieder:innen auf Bundesebene im Jahr 2022 auf 12 %. Im Vergleich dazu lag der Anteil der Ostdeutschen in der Bundesregierung im Jahr 2016 noch bei 19 %. (3) Zwar ist in diesem Zuge zu berücksichtigen, dass es schon Bundesregierungen mit einem geringeren Anteil an Ostdeutschen gegeben hat und Bayern als zweitgrößtes Bundesland in der aktuellen Legislaturperiode in Berlin gar keine Minister:innen stellt. Jedoch ist eine generelle Unterrepräsentation Ostdeutschlands in der Politik auf Bundesebene insgesamt nicht zu leugnen. Und dies, obwohl sich die SPD im Wahlkampf 2021 zum Ziel gesetzt hat, die „Sichtbarkeit der Ostdeutschen in allen Bereichen zu erhöhen“. (4)

Die Unterrepräsentation der Ostdeutschen beschränkt sich aber nicht nur auf die Politik, sondern tritt beispielsweise auch in Wissenschaft und Wirtschaft deutlich zutage: So werden die 100 größten Unternehmen im Osten Deutschlands im Jahr 2022 vorwiegend von im ehemaligen Westdeutschland sozialisierten Manager:innen geführt. (5) Der Anteil der ostdeutschen Führungskräfte in der Wissenschaft beschränkt sich auch auf 1,5 %. (6)

Es gibt sie also immer noch – die Ungleichverteilung zwischen Ost- und Westdeutschland, und zwar in ziemlich vielen Bereichen. Aber ist das eigentlich für unsere Generation problematisch? Und wie sehr ist unser Alltag von dieser Ungleichverteilung betroffen?


Das Studieren in den großen ostdeutschen Städten Leipzig und Dresden gilt als angesagt – es kommen auch viele Studierende aus westdeutschen Städten. Trotzdem sehen sich viele junge Ostdeutsche immer wieder mit „Abwertungserfahrungen“ konfrontiert: beispielsweise wenn sie bei Personalentscheidungen aufgrund ihres Geburtsortes benachteiligt werden. (7)

Tatsächlich fühlen sich einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2020 zufolge 59 % aller Ostdeutschen als Bürger:innen zweiter Klasse. (8) Und offenbar wird dieses Empfinden von einer Generation an die nächste weitergegeben, auch wenn sie die Zeit der DDR nicht mehr erlebt hat. (9) Sich gehört und gesehen fühlen – welche Rolle nehmen die Medien im Blick auf die ostdeutsche Bevölkerung ein? Geben sie dem Osten eine Stimme? Ganz im Gegenteil, es macht fast den Eindruck, als verstärkten die westdeutschen Medien sogar das Gefühl vieler Ostdeutscher, sich als „Bürger zweiter Klasse“ zu fühlen. Der Mitteldeutsche Rundfunk ging in einer Untersuchung aus dem Jahr 2018 der Frage nach, ob ostdeutsche Themen zu wenig oder eindimensional dargestellt werden. Dabei fiel auf, dass in der westdeutschen Presse zunehmend negative Bezeichnungen im Zusammenhang mit Ostdeutschland verwendet werden. Ostdeutschland wird beispielsweise in westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften häufiger in Verbindung mit den Wörtern „Problem“ und „Rechtsextremismus“ erwähnt als in der ostdeutschen Presse. (10) Zudem wird kritisiert, dass ostdeutsche Perspektiven von den großen „Leitmedien“ wie der Süddeutschen Zeitung (SZ) oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zu wenig integriert, beziehungsweise repräsentiert werden.(11) So entsteht etwa der Eindruck, dass die neuen Bundesländer nur dann in den deutschlandweiten Nachrichten sind, wenn über den Wahlerfolg der AfD oder rassistische Übergriffe berichtet wird. Den Ostdeutschen scheint also nicht nur ein Sprachrohr zu fehlen. Es ist nicht zu leugnen, dass die westdeutsche Presse in gewisser Weise auch zur Negativdarstellung der ostdeutschen Bevölkerung neigt. Was könnte hier Abhilfe schaffen – die Situation verändern?

Tatsächlich hat der Bundestag mit dem Beschluss zum Bau des „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ einen wichtigen Impuls gesetzt, der unter anderem den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Deutschen Einheit sowie den Dialog zwischen Ost- und Westdeutschland fördern soll. Dabei sollen auch die „Transformationserfahrungen“ der Ostdeutschen im Rahmen der Wiedervereinigung genutzt werden, um zukünftige Herausforderungen anzugehen. (12) Das Zentrum soll zwar erst im Jahr 2028 eröffnet werden, doch der Standortwettbewerb für das Projekt hat bereits im Juli diesen Jahres begonnen. (13) Eine weitere Maßnahme, die für eine bessere Repräsentation der ostdeutschen Bevölkerung sorgen soll, stellt die sogenannte „Ost-Quote“ dar. Ähnlich wie die „Frauenquote“ sieht diese eine Mindestprozentzahl von Ostdeutschen in bestimmten Gremien oder Ämtern vor. Die tatsächliche Wirkung der Ost-Quote ist jedoch sehr umstritten und konnte bisher nicht durchgesetzt werden. (14)

Neben solchen praktischen Maßnahmen sollte man sich aber vielleicht zuerst einmal die Frage stellen, woher überhaupt das Konstrukt einer ostdeutschen Identität kommt. „Der Osten“ wird oft als eine Art „gescheitertes Projekt“ dargestellt und ist scheinbar immer das, was „der Westen“ nicht ist: fremdenfeindlich, demokratiescheu und rechtsextrem. Aber ist es nicht gerade Westdeutschland, das in allen Bereichen unsere Gesellschaft dominiert und dieses Bild vom „Osten“ kreiert hat, ihm diese Identität zuschreibt? Rassistische Vorfälle in Westdeutschland sind genau wie in Ostdeutschland keine Einzelfälle. Und wenn jemand die Demokratie schätzt, dann sind es vielleicht doch gerade die Ostdeutschen mit ihrer Diktaturerfahrung?


Dabei ist es auch eine Aufgabe unserer Generation, unbelastet von der DDR- Vergangenheit, diese Vorstellung zu durchbrechen. Denn solange eine Herkunft aus dem Osten die Lebens- und Berufschancen verringert, die führenden Positionen zum größten Teil westdeutsch besetzt sind und der Westen „Ostdeutsche zu Fremden im eigenen Land“ (15) macht, kann man nicht von einer inneren Einheit Deutschlands sprechen.

Es ist an der Zeit, die alte Identitätsspaltung in unseren Köpfen und in der Praxis zu verwerfen, sich mit dem gemeinsamen Erfahrungshorizont dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen und Problemsituationen zu bewältigen. Dabei kann gerade die Diktaturerfahrung aus der DDR einen wertvollen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten. Und so kommt man dann auch dem Ende der Wende näher.



 

Foto: Claudio Schwarz

Quellen

(1) SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, 2021: Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 5, online bundesregierung.de [27.06.2023].

(2) Kang, G. S., 2011: Innere Einheit als Herausforderung der deutschen Wiedervereinigung, online bpb.de [27.06.2023].

(3, 5) Astheimer, S., 2022: Ostdeutsche schaffen es selten in die Chefetagen, online faz.net [27.06.2023].

(4) Matthies, C., 2022: Die Repräsentation Ostdeutschlands nach der Bundestagswahl 2021, online bpb.de [27.06.2023].

(6) Deutscher Fachjournalisten Verband, 2021: Warum das Verhältnis der Ostdeutschen zu den Medien so schwierig ist?, online dfjv.de [27.06.2023].

(7) Orbach, S. u. Gusko, J., 2022: In Verwaltung und Politik sind Ostdeutsche unterrepräsentiert, online deutschlandfunknova.de [27.06.2023].

(8) Faus, J., Hartl, M. u. Unzicker, K., 2020: 30 Jahre deutsche Einheit, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, S. 34.

(9) Wenzel, A., 2021: Ach du je, ein Sachse, online fluter.de [27.06.2023].

(10) mdr, 2020: Ostdeutschland in der Presse, online mdr.de [27.06.2023].

(11) Mükke, L., 2021: 30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung. Schreiben Medien die Teilung Deutschlands fest?, Frankfurt am Main, Otto Brenner Stiftung, S. 3.

(12) Deutscher Bundestag, 2022: Bundestag beschließt Einrichtung eines „Zukunftszentrums“, online bundestag.de [27.06.2023].

(13) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2022: Standortwettbewerb für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit, Pressemitteilung, online bundesregierung.de [27.06.2023].

(14) Taube, F. u. Heinrich, D., 2019: Eine Quote für Ostdeutsche, online dw.com [28.06.2023].

(15) Oschmann, D., 2022: Wie sich der Westen den Osten erfindet, online faz. net [28.06.2023].


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