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Einerseits – Andererseits: Sozialer Pflichtdienst

Ein sozialer Pflichtdienst für mehr Solidarität in der Gesellschaft?: Das soziale Pflichtjahr ist ein Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, bei dem junge Menschen nach dem Schulabschluss verpflichtet werden sollen, ein Jahr lang in sozialen Einrichtungen zu arbeiten. Mehr gesellschaftliches Engagement vs. persönliche Entscheidungsfreiheit: Die Idee des sozialen Pflichtjahres wird kontrovers diskutiert - auch hier in GENZ.


Einerseits: Wieso ein sozialer Pflichtdienst auch in diesem Zeitalter sinnvoll wäre.

– von Meral Nur Katran


Derzeit wird viel über einen sozialen Pflichtdienst gesprochen – oft ohne Einbezug von jenen Stimmen, die es betreffen würde: junge Erwachsene. Ich schreibe als 16-jährige Schülerin und meine Haltung ist klar: Meiner Meinung nach sollte es einen verpflichtenden Sozialen Dienst geben. Wichtig zu erwähnen ist, dass der Dienst nicht in dem Rahmen verpflichtend sein sollte, wie wir es vom Wehrdienst kennen. Wie ich mir das ganze vorstelle und unter welchen Bedingungen ein sozialer Pflichtdienst stattfinden sollte, möchte ich gern begründen.


Zusammentreffen unterschiedlicher Lebenswelten und Realitäten

Der soziale Pflichtdienst wäre eine Chance, unterschiedliche Lebenswelten und Lebensrealitäten zusammenzubringen. Es ist uns nicht fremd, dass sich in der Gesellschaft Gruppierungen bilden, weil Menschen aufgrund von Faktoren wie Herkunft, Bildung, Einkommen, Gesundheit und sozialem Netzwerk unterschiedliche Ressourcen und Chancen haben. Menschen mit ähnlichen Lebensrealitäten bleiben unter sich, was dazu führen kann, dass Probleme in anderen Realitäten ausgeblendet werden. (1) Viele kennen die Lebensumstände anderer nicht und werden in ihrem Leben vielleicht nur selten mit diesen konfrontiert. Ein sozialer Pflichtdienst kann hier neue Perspektiven ermöglichen. Dies führt zu Solidarität in der Gesellschaft, kann beim Abbau von Vorurteilen und Stereotypen helfen und zu einem neuen gesellschaftlichen Verständnis beitragen.


Mehr Ansehen für Care-Arbeit

Bei der sogenannten Care-Arbeit geht es um Arbeit, die darauf abzielt, menschliche Bedürfnisse zu erfüllen und das Wohlbefinden anderer zu fördern (z. B. Pflege, Betreuung, Haushaltspflege). Ein sozialer Pflichtdienst würde dazu führen, dass soziale Berufe in der Gesellschaft endlich die Anerkennung und Bedeutung bekommen, die sie verdienen. Dadurch, dass mehr Menschen einen Einblick in die Berufe der Care-Arbeit und in ihre harte Arbeit erhalten, könnte die Wertschätzung dieser gestärkt werden. Gerade bei der Arbeit mit Älteren kann dies zu einem Austausch zwischen Generationen führen: Eine mögliche Aufgabe hierbei wäre z. B., dass Jugendliche mit den Pflegebedürftigen einen Kaffee trinken, Kuchen backen oder andere soziale Aktivitäten durchführen. Die Zeit im Dienst sollte dazu dienen, neue Lebenswelten genauer kennenzulernen und neue Erfahrungen zu sammeln –ohne dabei unbeliebte Aufgaben einfach an Jugendliche abzugeben. Pflegeratpräsidentin Christine Vogler betonte in einem Interview, dass die jungen Menschen keine Fachkräfte ersetzen sollten und könnten. Trotzdem könnten sie „mit anpacken, lernen und (...) eine wichtige Rolle übernehmen, um das Sozialgefüge der Gesellschaft wieder stückweise zu kitten“ – laut dem Deutschen Pflegerat eine Chance, um noch mehr Menschen von einem Werdegang in der Pflege zu begeistern. (2)


Hilfe bei der Orientierung

Sozialer Pflichtdienst kann auch beim Berufseinstieg hilfreich sein. Laut der Deutschen Handwerks Zeitung haben 2014 nur ein Drittel der Schüler:innen konkrete Vorstellungen davon, was sie nach dem Schulabschluss machen wollen – es lässt sich nicht davon ausgehen, dass die Zahl seitdem gesunken ist. (3) Ein sozialer Pflichtdienst könnte den Schüler:innen beim Berufseinstieg helfen: Man kann Berufe kennenlernen und einen intensiven Einblick in den Berufsalltag bekommen, bevor man direkt eine Ausbildung oder ein Studium beginnt. Die Erfahrungen halten fürs Leben, sie können einen selbst und die Berufslaufbahn prägen. Deswegen halte ich es auch für wichtig, während des Dienstes die Möglichkeit zu haben, die Einrichtung zu wechseln. Ein Jahr lang jeden Tag im selben Betrieb zu arbeiten, halte ich nicht für sinnvoll. Vorschläge, wie man den Pflichtdienst in die Schulzeit integriert, finde ich hier wertvoll. Ein Konzept wäre, einen Tag in der Schulwoche den Dienst anzutreten, oder auch die Idee, ein Schulhalbjahr mit dem Dienst zu ersetzen,(4) halte ich für nachdenkenswert.


Ein Kompromiss?

Abschließend möchte ich hervorheben, dass besonders der Abbau von Vorurteilen gegenüber anderen Lebensrealitäten, Generationen und Berufsbildern und die Stärkung der Solidarität innerhalb der Gesellschaft für mich zentrale Aspekte sind, die für einen sozialen Pflichtdienst sprechen. Selbstverständlich wird der Pflichtdienst nicht komplett dafür sorgen, dass alle Vorurteile abgebaut werden. Auch wenn ich den Argumenten von Simon (unterstehend) teilweise zustimme, sehe ich es trotzdem als eine Chance und einen Schritt in eine gerechtere Zukunft. Ich halte es dabei für sinnvoll, den sozialen Pflichtdienst in die Schullaufbahn zu integrieren. Man könnte Anteile des Schuljahres in Praxisarbeit aufteilen. Das heißt z. B. einmal wöchentlich den Dienst anzutreten. Dies könnte in der 10. Klasse stattfinden. So hat man nach dem Schuljahr die Chance, den Schulabschluss zu machen, eine Ausbildung, Studium, FSJ oder ähnliches mit ersten Erfahrungen anzufangen. Als Schülerin einer 11. Klasse hätte ich so selbst ein großes Interesse an einem sozialen Pflichtdienst.

 

Andererseits: Soziale Arbeit als Zwang: Warum ein sozialer Pflichtdienst keine Probleme löst, sondern vielmehr neue schafft. – von Simon Urmoneit


Für ein Jahr bringen sich alle jungen Menschen in die Gesellschaft ein und lernen dabei noch viel mehr über sich und ihre Mitmenschen. Eine Idee, die viele Potenziale birgt. An die Umsetzung ist jedoch nicht zu denken. Wenn man von einem verpflichtenden sozialen Dienst redet, ist meist unklar, was überhaupt genau gemeint ist. Sollen die heute bereits existierenden sozialen Freiwilligendienste verpflichtend, ein Zivildienst 2.0 eingeführt oder ein gänzlich neues Konzept, wie es Meral auf den vorherigen Seiten vorgestellt hat, entwickelt werden? Letztlich macht es jedoch keinen großen Unterschied. Die Umsetzung eines sozialen Pflichtdienstes ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll.


Wohin mit allen?

Der einfachste und trotzdem wichtigste Grund dafür ist, dass es gar nicht genug Plätze für unqualifizierte Arbeitskräfte im sozialen Bereich gibt. Das sticht schnell ins Auge, wenn man einen kurzen Blick auf die Zahlen wirft. Gehen wir davon aus, dass sich ein soziales Pflichtjahr ungefähr an den jetzigen sozialen Freiwilligendiensten (FSJ, BFD, FÖJ) orientieren wird. (1) In 2021 haben 80.000 Menschen einen solchen Dienst geleistet. (2) Ich bin selbst FSJler und habe viel Kontakt zu anderen Freiwilligen. Daher kann ich sagen: Schon jetzt kann, aufgrund mangelnder Arbeitskräfte, in den seltensten Fällen eine gute Betreuung und Einarbeitung gewährleistet werden. Nach Vorstellung der meisten Menschen würde ein sozialer Pflichtdienst bedeuten, dass jede:r Deutsche nach seinem:ihrem Schulabschluss oder -abgang ein Jahr lang einen sozialen Dienst verrichten muss. Im Jahre 2021 hätten so nicht etwa 80.000, sondern 770.000 Menschen einen solchen Dienst leisten müssen. (3) Nach Schätzungen der zuständigen Verbände ist es realistisch, dass durch einen Ausbau der sozialen Freiwilligendienste die Zahl an Plätzen aber nur auf rund 120.000 erhöht werden könnte. (4) Das reicht natürlich nicht annähernd aus. Selbst wenn man den Vorschlag der CDU berücksichtigt – auch militärische Tätigkeitsbereiche anzubieten (5) – ist es schwer, ein Konzept zu entwickeln, wie diese Vielzahl von Menschen sinnvoll und gesellschaftlich gewinnbringend beschäftigt werden könnte. Ein solches Jahr würde den sozialen Sektor völlig überfordern.


Keine Maßnahme gegen den Fachkräftemangel

Ferner wird ein verpflichtendes soziales Jahr häufig als eine Lösung für den Fachkräftemangel in der Care-Arbeit gehandelt. Hierzu stellt sich mir die Frage: Würdest du dich dafür entscheiden, langfristig in einem Beruf mit meist sehr schlechten Arbeitsbedingungen zu arbeiten, wenn du dich im Zweifelsfall nicht einmal aus freien Stücken dafür entschieden hast, in diesem Bereich zu arbeiten? Ich wage zu bezweifeln, dass viele Menschen diese Frage bejahen können. Aber selbst wenn der Anspruch an die Idee ist, nur kurzfristig unterstützende Arbeitskräfte anzuwerben, würde ein soziales Pflichtjahr gerade die Situation von Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, eher behindern als erleichtern. Die Fachkräfte müssten zusätzlich zu ihren Alltagsaufgaben die Betreuung und Einarbeitung von den Sozialdienstler:innen übernehmen. Wie bereits erwähnt, gibt es für diese Aufgabe bereits heute kaum Kapazitäten. Dadurch würden junge Personen, von denen womöglich viele unmotiviert und frustriert oder schlicht nicht für einen sozialen Beruf geeignet wären, Kinder und Pflegebedürftige ohne nennenswerte Einarbeitung betreuen müssen; ein Start in ihr Berufsleben, der frustrierender nicht sein könnte. Nach spätestens einem Jahr wären sie zudem wieder weg und neue Personen müssten wieder von null auf eingearbeitet werden. Ein soziales Pflichtjahr ist also auf keinen Fall die Antwort auf den Fachkräftemangel, sondern eine weitere Belastung für das Pflegesystem. Neben der Einarbeitung und Betreuung kommen auch zeitintensive Prozesse wie genaue Personalplanung oder auch monetäre Aufwände hinzu, wie das Schaffen von Arbeitsplätzen oder das Bereitstellen von Geräten für die Arbeit. Von Entlastung des sozialen Arbeitssektors kann hier nicht gesprochen werden. Im Angesicht der schlechten Verfassung des Care-Sektors ist auch von einer Aufwertung des gesellschaftlichen Ansehens der sozialen Berufe nicht auszugehen. Zunächst müssten sich die Arbeitsbedingungen hier grundlegend verbessern.


Persönliche Entwicklung durch soziale Arbeit?

Dann gibt es noch das Argument, dass ein sozialer Pflichtdienst Wunder für den Reifeprozess der Jugendlichen bewirken kann. Häufig wird behauptet, ein soziales Jahr würde einem helfen, aus der eigenen Komfortzone auszutreten, Vorurteile zu bekämpfen und ein reiferer Mensch zu werden. Dem kann ich als FSJler grundsätzlich zustimmen. Wichtig ist jedoch, anzumerken, dass dieser Effekt in erster Linie bei tatsächlichen sozialen Tätigkeiten mit viel Kontakt zu anderen Menschen erzielt wird. Allerdings werden in Deutschland sehr hohe Qualitätsstandards an die Arbeitskräfte im sozialen Bereich gestellt. Durch den Austausch mit anderen Freiwilligen habe ich erfahren, dass diese meistens nur wenige verantwortungsvolle Aufgaben erledigen dürfen. Durch den rasanten Anstieg an Sozialdienstler:innen wird noch weniger individuelle Betreuung stattfinden können. Dadurch werden Menschen im sozialen Pflichtdienst mehr und mehr niedrigschwellige Aufgaben (z. B. Gebäudereinigung etc.) ohne sozialen Anspruch erledigen müssen. Zudem würden Zeit und Raum für Entwicklungsgespräche, Reflexionsprozesse und Möglichkeiten des Austausch zwischen den Pflichtdienstlern und Betreuer:innen fehlen, die für den Reifeprozess wichtige Momente sind. So wären die Hauptprofiteure des sozialen Plichtjahres lediglich die Arbeitgeber, die sehr billige Arbeitskräfte geschenkt bekämen.


Zwang führt zu Frustration

Wahrscheinlich ist auch, dass ein sehr großer Teil der Schulabsolvent:innen ein soziales Pflichtjahr eher als Strafe und vor allem als Eingriff in die eigene persönliche Freiheit begreifen würde. Sie müssten ein Jahr lang ihre Zukunftspläne aufschieben, ihnen wird das „Gap-Year“ zum Reisen genommen. Oder, von enormer Bedeutung: Weniger privilegierte Jugendliche können nicht anfangen zu arbeiten, um sich und ihre Familie zu unterstützen. Hinzu kommt, dass soziale Berufe anstrengend sind. Auch durch die schlechten Arbeitsbedingungen sind solche Berufe unfassbar kräftezehrend. Alle diese Dinge könnten viel Frustration bei den Sozialdienstler:innen auslösen. Dadurch würde ein sozialer Pflichtdienst nicht nur auf Kosten der Pflichtdienstler, deren Familien und Zukunftspläne gehen. Besonders betroffen wären auch diejenigen, die von genervten und frustrierten Jugendlichen eigentlich liebevoll betreut werden sollen. Oder diejenigen, die mit diesen zusammenarbeiten müssten, sowie in einigen Fällen die Familie und in vielen Fällen die jungen Schulabsolvent:innen, die ihre eigenen Zukunftspläne auf einen späteren Zeitpunkt verschieben müssten.


Abschließend muss ich sagen, dass es sehr wünschenswert wäre, würden sich deutlich mehr Menschen sozial engagieren oder auch einen Freiwilligendienst antreten. Ich bin auch der Meinung, dass es mehr Anreize geben muss, ein soziales Jahr zu leisten. Aktuell gibt es aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung tatsächlich Menschen, die sich einen sozialen Freiwilligendienst gar nicht leisten können. Soziales Engagement ist ein Privileg. Es gibt gerade im sozialen Bereich schlicht nicht genügend Plätze für die Masse an Menschen, die durch ein soziales Pflichtjahr zusammenkommen würden. Dies hat starke Auswirkungen auf die Arbeit und Erfahrung in diesem Jahr. In jedem Fall muss ein solches Jahr auch weiterhin auf Freiwilligkeit beruhen. Mit Blick auf die persönliche Weiterentwicklung ist es vermutlich zwar richtig, dass besonders diejenigen, die nicht aus freien Stücken einen Freiwilligendienst antreten, am meisten davon profitieren würden. Allerdings ist ein soziales Pflichtjahr den Arbeitenden im sozialen Bereich oder auch den betreuten Personen gegenüber derzeit einfach nicht vertretbar.


Quellen

Einerseits

(1, 4) 13 Fragen, 2022: Brauchen wir einen sozialen Pflichtdienst?, online zdf.de [13.06.2023].

(2) Altenpflege, 2022: Pflegerats-Präsidentin plädiert für Pflichtjahr, online altenpflege-online.net [13.06.2023].

(3) Deutsche Handswerks Zeitung, 2014: Schüler-Umfrage zur Berufsfindung, online deutsche-handwerks-zeitung.de [13.06.2023].


Andererseits:

(1) BAFZA, 2022: Entwicklung im Bundesfreiwilligendienst, online bundesfreiwilligendienstde [20.06.2023].

(2) BMFSFJ, 2022: Auflistung der Freiwilligen Engagierten im freiwilligen sozialen Jahr, online daten.bmfsfj.de [21.06.2023].

(3) DESTATIS, 2022: Schulabsolventinnen/-absolventen und Schulabgänger/- innen nach Art des Abschlusses, online datenportal.bmbf.de [22.06.2023].

(4) BMFSFJ, 2018: Freiwilligendienste für junge Menschen noch attraktiver machen, online bmfsfj.de [22.06.2023].

(5) CDU Deutschland, 2023: Das Gesellschaftsjahr der CDU, online cdu.de [04.06.2023].




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