Sich für andere einzusetzen, bedarf wahnsinnig viel des Muts und Zivilcourage und hat viel damit zu tun, wer wir sind und wofür wir stehen. Daher sprach ich mit der Sozialpsychologin und Zivilcourage-Expertin Prof. Dr. Margarete Boos, um herauszufinden, was genau Zivilcourage eigentlich ist, warum uns diese besondere Art von Mut oft so schwerfällt und wie man vom Zuschauenden zum Handelnden wird.
Aus meinen Kopfhörern dröhnt eine Indie-Playlist. Vor mir in der Bahn sitzt eine Gruppe lachender Jungs, ich schätze sie auf irgendwas zwischen zehn und zwölf Jahren. Einer der drei fällt mir besonders auf: Unter dem linken Brillenglas trägt er ein Augenpflaster mit einem Dinosaurier darauf und als einziger in der Runde lacht er nicht. Wie in einem Stummfilm beobachte ich, wie immer wieder auf ihn gezeigt und gelacht wird. Ich drücke die Pausetaste auf meinem Handydisplay - der Song stoppt. „Sag schon, hast du eine Freundin?“, höre ich einen blonden Jungen gerade höhnisch fragen. Sein sommersprossiger Sitznachbar grinst bösartig: „Wohl eher einen FREUND“, fügt er hinzu und funkelt den Jungen mit dem Dino-Augenpflaster an: „Einauge ist doch sowas von ...“ und mit dem letzten Wort stößt er ihm mit dem Finger die Brille von der Nase: „SCHWUL!“. Die beiden brechen in schallendes Gelächter aus. Der Junge tut mir echt leid. Er versucht gerade seine Brille vom Boden aufzuheben. „Bücken tust du dich wohl gerne, was?“, feixt der Blonde. Der Junge wird rot und rückt seine Brille zurecht. Das, was sich hier von meinen Augen abspielt, macht mich richtig sauer. Ich muss ihm helfen. Ich sollte einfach aufstehen und laut „STOPP“ oder „AUFHÖREN“ oder etwas in die Richtung rufen. Nein, das ist irgendwie zu übertrieben, das sind doch bloß ein paar Kinder. Vielleicht wäre es dem Jungen sogar eher noch unangenehmer, wenn ich jetzt etwas sagen würde. Der Gong ertönt wieder: „Nächster Halt: Baumwall – Ausstieg rechts“.Auch die Jungen sprechen wieder: „Hat die Schwuchtel verlernt zu sprechen?“, höhnt einer der zwei und stößt dem Jungen mit dem Dino-Augenpflaster mit der Faust in die Seite. Er krümt sich schmerzverzerrt. „Aufhören“, keucht er und blickt mich mit seinem rechten unverdeckten Auge angsterfüllt an. Ich nehme meine Kopfhörer ab. Das reicht! Ich muss jetzt einschreiten. Direkt neben der Jungs-truppe nehmen gerade zwei Männer in schwarzen Anzügen Platz. Die Blicke der Anzugträger bleiben kurz auf der Szenerie haften, dann vertiefen sie sich aber wieder in ihre Handys. Warum tun die denn nichts? Sie sitzen schließlich direkt daneben. Ich schaue mich um und blicke nur in teilnahmslose, müde Gesichter. Niemand tut etwas. Sind es vielleicht doch einfach nur ein paar Kinder und ich halte mich lieber raus? Wieder der Gong: „Nächster Halt: Rödingsmarkt“. Die beiden Jungs erheben sich und zerren ihr Opfer hinter sich her: „Lasst mich los, ich muss hier gar nicht raus“. „Klappe, Einauge“, sagt der Blonde und gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Das war einer zu viel. Ich muss einschreiten. JETZT. Ich erhebe mich ruckartig und stehe nun direkt vor den Dreien – und sage wieder nichts. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie der Junge mit dem Dino-Augenpflaster aus der Bahn geschubst wird. Durch die sich schließenden Türen sehe ich ihn weinen. Fassungslos blicke ich der immer kleiner werdenden Gruppe hinterher. Ich kann nicht glauben, dass ich nichts getan habe.
Was ist Zivilcourage eigentlich und wo fängt sie an?
In der Bahnbegegnung von oben hätte ich eingreifen können. Ich hätte Zivilcourage zeigen sollen. Aber was bedeutet das eigentlich genau? Und wo fängt Zivilcourage an? Antworten auf diese Fragen weiß Sozialpsychologin Prof. Dr. Boos, die sich schon lange mit der Thematik beschäftigt und neben ihrem 2007 erschienenen Buch „Zivilcourage trainieren! Theorie und Praxis“ auch ein Zivilcourage-Training mitentwickelt hat. (1)
Der Begriff Zivilcourage setzt sich aus dem lateinischen Wort „zivil“ (bürgerlich, öffentlich) und dem französischen Wort „courage“ (Mut) zusammen. (2) Es geht also darum, Mut zu zeigen im Umgang mit anderen, auch ganz fremden Personen (im öffentlichen Raum), indem man ihnen hilft.
Laut der Psychologin wird Zivilcourage anhand dreier Elemente definiert: Zum einen basiere Zivilcourage meist auf humanitären und demokratischen Werten wie der Würde des Menschen, Toleranz, freier Entfaltung der Persönlichkeit oder freier Meinungsäußerung. Weiterhin zentral bei zivilcouragiertem Handeln ist das Eingehen eines gewissen Risikos. Dabei entscheidet man zwischen einem sozialen Risiko (z. B. Anfeindungen, Beleidigungen etc.) und einem körperlichen Risiko (physischer Angriff). Das dritte Element ist der sogenannte positive Normbruch. Darunter versteht die Sozialpsychologie das Verstoßen gegen gesellschaftliche Konventionen (beispielsweise die Auflehnung gegen Autoritäten wie Lehrer:innen oder Vorgesetzte oder auch das Lautwerden in der Öffentlichkeit). Oftmals ist dieses Brechen gewisser sozialer Konventionen nötig, um Zivilcourage zu leisten.
Im Gegensatz zum Helfen muss Zivilcourage immer im öffentlichen Raum stattfinden, daher ist das Spenden an eine Menschenrechtsorganisation beispielsweise keine Zivilcourage. Aber auch nicht jedes Helfen im öffentlichen Raum ist Zivilcourage, denn dafür bedarf es immer eines gewissen Risikos, welches häufig mit möglichen negativen Konsequenzen einhergeht. In Abgrenzung dazu geht jemand, der mutig ist, zwar genauso ein Risiko ein, und zivilcouragiertes Handeln bedarf auch immer des Muts, allerdings ist nicht jede mutige Handlung auch Zivilcourage, da Letzteres immer auf den oben genannten demokratischen und humanitären Werten basiert. Einen klaren Wertebezug hingegen hat soziales Engagement, was oftmals auch mit Zivilcourage gleichgesetzt wird - dieses gilt jedoch, analog zum Helfen, durch das Ausbleiben eines Risikos, nicht als Zivilcourage. Hätte ich dem Jungen geholfen, hätte es sich bei dieser Hilfeleistung um Zivilcourage gehandelt? Die Psychologin nickt: „Das wäre ein klassisches Beispiel für zivilocuragiertes Handeln.“ Das Einschreiten hätte zum einen einen klaren Wertebezug (Gerechtigkeit, Solidarität und die Würde des Menschen), zum anderen wäre ich ein Risiko eingegangen. Aufgrund des jungen Alters der Täter geht in meinem Fall wohl eher kein Risiko in Form einer physischen Bedrohung aus, es bestünde jedoch ein soziales Risiko (etwa nicht ernst genommen zu werden oder beleidigt zu werden). Der positive Normbruch würde durch das Durchbrechen der Anonymität und das mögliche Lautwerden stattfinden.
Warum fällt es uns oft so schwer, einzugreifen?
Weder ich noch die anwesenden Fahrgäste haben dem Jungen mit dem Dino-Pflaster aus dem Beispiel geholfen – und das ist sicherlich kein Einzelfall. Viel zu oft schauen Leute weg und greifen nicht ein. Warum ist das so? Die Psychologin erklärt, dass man eine Notsituation zunächst erkennen, sich dann verantwortlich fühlen und schließlich die Bereitschaft für mögliche negative Konsequenzen tragen muss. Das sind eine Reihe von Hürden in einem oftmals in Bruchteilen von Sekunden ablaufenden Prozess. Ein solches Eingreifen wird in der Wissenschaft als Intervention bezeichnet. Die erste Hürde einer solchen Intervention ist, die Notsituation auch als eine zu interpretieren. Das ist manchmal gar nicht so einfach. „Wenn wir etwas nicht eindeutig interpretieren können, orientieren wir uns oft am Verhalten oder der Meinung anderer“, erklärt Prof. Dr. Boos. Beobachtet man, dass jemand Hilfe braucht, schaut man sich oft erstmal um. Tun das alle, tun alle nichts. Die Wissenschaft nennt das pluralistische Ignoranz. Eine gar nicht so unwichtige Rolle bei der Frage, ob wir eingreifen oder nicht, spielt die Anzahl der anwesenden Personen. Entgegen der Vermutung, eine höhere Anzahl an Beobachter:innen erhöhe die Chance, dass einem geholfen wird, konnte in vielen Studien das Gegenteil nachgewiesen werden: Die Wahrscheinlichkeit, dass einem geholfen wird, sinkt mit steigender Anzahl der Zuschauer:innen. Diese paradoxe Beobachtung hat in der Psychologie sogar einen eigenen Begriff: der Bystander-Effekt. Dahinter steckt eine sich auf alle anwesenden Zuschauer:innen (Bystander) verteilende Verantwortung: In der Wissenschaft nennt man das dann Verantwortungsdiffusion. Je mehr Menschen also eine Notsituation beobachten, desto weniger fühlt sich jede:r Einzelne für diese verantwortlich. Interessanterweise verschwindet der Effekt, sobald die erste Person eingegriffen hat, und es kommt zu einer Art Kettenreaktion.(4)
Weitere Hürden sind laut der Psychologin Ablenkungen im öffentlichen Raum, also alles, was um einen herum so passiert. Aber auch das Versinken in sein Handy zählt dazu. Viele scheuen sich auch davor, einzuschreiten, da sie sich nicht für kompetent genug halten. In unserem Beispiel aus der Bahn könnte man sich beispielsweise selbst einen Kompetenzmangel zuschreiben, da man sich einredet, ohne pädagogischen Background nicht adäquat deeskalieren zu können. Eine große Rolle bei nicht geleisteter Zivilcourage spielen außerdem soziale Hemmungen, also die Angst vor der negativen Bewertung durch andere. Weiterhin kann die zunehmende Anonymisierung der Gesellschaft, durch die wir im öffentlichen Raum, beispielsweise durch moderne Technologien, immer weniger miteinander sprechen und interagieren müssen, eine Hürde für Zivilcourage sein. Entgegen mancher Vermutung konnten laut aktuellen Studien keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden werden.
Was kann man jetzt konkret tun?
Inwiefern wir uns für andere einsetzen, hat viel damit zu tun, wofür wir als Menschen stehen. Daher setzt Zivilcourage immer voraus, dass wir uns unserer eigenen Werte bewusst sind. Da diese unser Handeln bestimmen, ist es wichtig, sich mit folgenden Fragen auseinanderzusetzen: „Wer bin ich und wofür stehe ich?“ sowie „In was für einer Gesellschaft möchte ich leben?“ Befindet man sich in einer akuten Notsituation, bleibt aber natürlich keine Zeit, ausführlich über seinen individuellen moralischen Kompass zu reflektieren. Das wäre in etwa so, als würde man in einem brennenden Haus mit einem Feuerlöscher in der Hand stehen und erst einmal anfangen, die Bedienungsanleitung zu studieren. Was also tun, wenn es brenzlig wird? Wenn keine Zeit für Instruktionen bleibt und man den Feuerlöscher sofort bedienen muss?
Genau hinschauen: Die Sozialpsychologin rät, wirklich genau hinzuschauen. Streitet z. B. das Pärchen auf der anderen Straßenseite einfach nur, oder bedrängt oder bedroht der Mann die Frau? Weist die Mutter ihr Kind im Supermarkt einfach nur zurecht, oder wird sie vielleicht sogar handgreiflich? Es ist nicht immer leicht, eine Notsituation auch als solche zu interpretieren. Daher lieber einmal zu viel hinschauen, als einmal zu wenig! Bei dem Beispiel aus dem Einstieg würde man also erst einmal beobachten – benötigt der Junge Hilfe oder handelt es sich lediglich um ein Spiel? Durch Anfeindungen und körperliche Angriffe kann das Geschehnis jedoch schnell eindeutig als Notsituation eingestuft werden.
Sich Unterstützung holen: In öffentlichen Räumen befindet sich oftmals eine Vielzahl an Personen mit einem gemeinsam in der jeweiligen Situation. Daher seid ihr nicht allein und könnt euch Unterstützung bei euren Mitmenschen holen. In der Hamburger U-Bahn hätte ich meine Sitznachbarin fragen können, ob sie die Situation ähnlich kritisch einschätzt wie ich. Man könnte auch weitere Fahrgäste ansprechen und über ein gemeinsames Einschreiten nachdenken.
Opferbezogen eingreifen: Viele Menschen tendieren zu einem sogenannten täterbezogenen Eingreifen, da man oft davon ausgeht, man müsse direkt mit den Täter:innen interagieren, jedoch ist das Gegenteil der Fall! Die Psychologin rät davon ab, als erste Maßnahme den Täter direkt anzusprechen. Stattdessen sollte man eher direkt mit dem Opfer kommunizieren. Ein einfaches „Hey, sag mal, ist alles okay bei dir?“ reicht da manchmal schon aus. In meinem Fall hätte ich den Jungen mit dem Dino-Pflaster auch fragen können, ob er sich zu mir setzen möchte.
Deeskalieren: Manchmal ist Intervenieren nicht immer möglich und in diesem Fall sollte man deeskalieren. Dafür ist ein ruhiges, bestimmtes Auftreten wichtig. Auf keinen Fall sollte man selbst aggressiv werden oder die Täter:innen anfassen. Die Psychologin rät zudem zu Ich-Botschaften. Für meine Bahnbegegnung beispielsweise: „Ich finde es echt nicht cool, wie ihr mit eurem Klassenkameraden umgeht.“ Wird es allerdings gefährlich, sollte man bloß nicht den Helden oder die Heldin spielen und lieber die 110 wählen.
Im Kleinen Haltung zeigen.
Zivilcourage fängt nicht erst beim Mobbing in der U-Bahn oder gewalttätigen Müttern im Supermarkt an, sondern schon viel früher. Zum einen finden die meisten Notsituationen gar nicht an diesen öffentlichen Orten, sondern in Schutzräumen statt. Beispielsweise in der Familie, im Klassenzimmer, in Sportvereinen, an der Universität oder am Arbeitsplatz. Zivilcourage ist nicht nur bei Mobbing, körperlichen Angriffen oder sex-uellen Übergriffen gefragt, sondern wird oft auch in viel subtileren Situationen benötigt. Wenn Tante Erna sich beim Familientreffen über die Konsensdiktatur der Wokebubble echauffiert, die sie zwingen würde, „SCHOKOkuss“ zu sagen, oder Gigi D’Agostinos L’Amour toujours auf einem Schützenfest nach Sylter Art mitgegrölt wird - dann geht es darum, im Kleinen Haltung zu beweisen. Den Umgang mit solchen und ähnlichen Situationen kann man in Zivilcourage-Trainings lernen. Prof. Dr. Boos hat selbst ein solches Training entwickelt: „Wir machen Rollenspiele, Schlagfertigkeitsübungen und schauen, was situative Barrieren sind, die die Teilnehmenden davon abhalten, Zivilcourage zu zeigen.“
Nichtstun ist keine Option
Haltung zeigen ist unverzichtbar - im Netz genauso wie im Reallife, im Großen wie im Kleinen. Wenn jede:r von uns im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten handelt, tragen wir alle dazu bei, dass wir als Gesellschaft mehr zusammenhalten. Der Junge mit dem Dino-Pflaster aus der Straßenbahn wird mir noch lange im Kopf bleiben - und mich daran erinnern, das nächste Mal nicht wegzusehen. Denn das ist schlichtweg keine Option.
(1) Boos, M., Jonas, K., Brandstätter, .(2007): Zivilcourage trainieren! Theorie und Praxis. Hogrefe Verlag, 1. Auflage.
(3) Parks, R., Hacks, A., Arrer, K. (2012): Zivil.Courage.Wirkt. S. 8., Hrsg. vom Mathausen Komitee.
(4) Boos, M., Jonas, K., Brandstätter, .(2007): Zivilcourage trainieren! Theorie und Praxis. S. 208 f., Hogrefe Verlag, 1. Auflage.
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