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Über den Trend des Solidarisch-Seins


Im September letzten Jahres begannen in Iran die landesweiten Proteste gegen die autoritäre Regierung des Staates. Unter dem Spruch „Frauen, Leben, Freiheit“ zeigen die Menschen weltweit ihre Solidarität mit den Iraner:innen, ziehen auf die Straßen und äußern in Instagram-Stories und Tweets ihre Betroffenheit. So ähnlich drückte sich auch die Solidarität aus, mit der zu Beginn der Covid-19-Pandemie den Pfleger:innen für ihre Leistung applaudiert wurde. Vielleicht erinnert ihr euch auch noch an #blackouttuesday? Oder als im Februar 2022 der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann und das Brandenburger Tor in den Landesfarben der Ukraine angestrahlt wurde? Doch wer setzt sich heute noch für die Pflegekräfte ein? Was ist aus der anfänglichen Hilfsbereitschaft für Schutzsuchende aus der Ukraine geworden? Und sind die Ereignisse in Iran nicht schon wieder über den Folgen des Erdbebens in der Türkei und in Syrien vergessen? Viele Menschen äußern über die Sozialen Medien ihre Solidarität, aber tun darüber hinaus nichts weiter. Das eigentliche Problem rückt schnell in den Hintergrund, sobald eine neue Krise in die Schlagzeilen kommt. Inwieweit ist das Solidarisch-Sein ein Trend, bei dem der Inhalt eigentlich an zweiter Stelle steht?


Um herauszufinden, was Solidarität überhaupt bedeutet und ob sie mehr ist als nur eine Modeerscheinung, habe ich ein Interview mit dem Soziologen Ulf Tranow geführt. Tranow ist seit 2013 Juniorprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und beschäftigt sich mit den Themen Konflikt und Integration in heterogenen Gesellschaften.

Außerdem erfuhr ich in einem Gespräch mit der Iranerin Sherry, wie die Menschen in Iran zu den Solidaritätsbekundungen im Ausland stehen und wie wir in Deutschland nachhaltig solidarisch sein können. Sherry ist Iranerin, wohnt und studiert aber seit fünf Jahren in Deutschland. Sie hat sich schon für die Rechte der Frauen eingesetzt, als sie noch in Iran gewohnt hat. In Deutschland ist sie wieder seit dem Tod von Jina Mahsa Amini, der die Massenproteste in Iran auslöste, politisch aktiv. Sie möchte für die Menschen, die in Iran für ihre Grundrechte kämpfen, eine Stimme im Ausland sein.



Herr Tranow, in Zeiten der Krise taucht immer wieder das Stichwort Solidarität auf. Aber was bedeutet dieser Begriff überhaupt?


Im Kern verweist Solidarität auf eine Verbundenheit, aus der sich die Motivation und Verpflichtung ableitet, Leistungen zugunsten anderer zu erbringen. Solidarleistungen können materieller, emotionaler oder symbolischer Art sein. Wesentlich für Solidarität ist, dass Leistungen auch dann erbracht werden, wenn sie mit gewissen Kosten einhergehen. Solidarische Verbundenheit entsteht durch unterschiedliche Faktoren: Das können beispielsweise geteilte Wertüberzeugungen oder gemeinsame Bedrohungen sein. Mit wem wir solidarisch sind und in welchem Ausmaß, ist allerdings nichts Feststehendes, sondern es wandelt sich. Es gibt in unserer Gesellschaft unterschiedliche Solidaransprüche, die in Konkurrenz zueinander stehen.


Warum ist Solidarität in unserer Gesellschaft wichtig? Welche Funktion hat sie?


Im Grunde handelt es sich bei Solidarität um einen Mechanismus, Probleme zu lösen. In Krisen stellt sie eine Möglichkeit dar, spontane Hilfe zu gewährleisten. Im Alltag, bspw. am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft, zeigt sie sich in Beiträgen zu gemeinsamen Aufgaben und wechselseitiger Unterstützung. Hier ermöglicht Solidarität eine faire und verlässliche Kooperation. Sie ist aber auch ein Leitprinzip, das in gesellschaftliche Institutionen eingeht. Dort dient sie dazu, gesellschaftliche Vorstellungen von Gerechtigkeit und Teilhabe zu realisieren.


Oft gibt es zu Beginn einer Krise eine Welle der Solidarität. Nach dem (Re-)Posten einer Story auf Instagram geschieht aber nichts weiter, und das eigentliche Problem scheint schnell vergessen. Vielleicht, weil das Solidarisch-Sein ein Trend ist, bei dem der Inhalt an zweiter Stelle steht?


Ob es sich bei symbolischer Unterstützung wie einem Social-Media-Post um Solidarität handelt oder nicht, entscheidet nicht die handelnde Person selbst, sondern diejenigen, die das Handeln beobachten und bewerten. Entscheidend ist dabei, ob wir den Eindruck haben, dass die handelnde Person es ernst meint, ob sie also bereit ist, für die Unterstützung eines Anliegens gewisse Kosten auf sich zu nehmen. Vor diesem Hintergrund müssten wir wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass viele symbolische Unterstützungen auf Social-Media- Plattformen keine „wirkliche“ Solidarität, sondern primär durch den Wunsch nach persönlichem Ausdruck motiviert sind. Ich würde das aber nicht von vornherein als so problematisch bewerten. Denn erstens kann der Effekt natürlich der sein, dass ein wichtiges Anliegen auf diese Weise große Aufmerksamkeit bekommt. Zum anderen bieten diese kostengünstigen und unverbindlichen Posts die Möglichkeit, Anliegen zu unterstützen, die man andernfalls ignorieren würde oder müsste. Angesichts unserer knapper Ressourcen sind unsere „Solidaritätskapazitäten“ ja begrenzt. Ich vermute, dass das schnelle und unverbindliche Posten und Re-posten nicht der Ersatz dafür ist, sich für bestimmte Anliegen mit mehr Engagement einzusetzen, sondern dass es eher eine zusätzliche Leistung ist.


Wie können wir auf lange Sicht solidarisch sein?


Solidarität ist immer begrenzt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind wir nicht mit allen Menschen gleichermaßen solidarisch, sondern vor allem mit jenen, mit denen wir uns identifizieren. Zum anderen sind unsere Solidarleistungen im Umfang beschränkt. Solidarität nimmt knappe Ressourcen in Anspruch, wie etwa Geld, Zeit oder emotionale Aufmerksamkeit. Da Solidarität etwas Begrenztes ist, zwingt es uns umso mehr, darüber nachzudenken, mit welchen Anliegen und Problemlagen wir gesellschaftlich solidarisch sein wollen. Wir müssen also gerade wegen der Begrenztheit von Solidarität unsere „Solidaritätsprioritäten“ reflektieren und diskutieren. Um die gesellschaftlichen „Solidaritätsressourcen“ nicht zu überbeanspruchen, müssen wir mit diesen sorgsam umgehen.

Wie solidarisch sind wir in Deutschland momentan mit den Menschen in Iran?


Die öffentlich sichtbare Solidarität hat abgenommen, was nicht zuletzt daran liegt, dass das Thema in den Medien nicht mehr so präsent ist und die Situation in Iran für die Mehrheit der Bevölkerung intransparent ist. Damit rückt das Thema aus dem Fokus der breiten Öffentlichkeit. Das ist auf der einen Seite natürlich bedauerlich und vielleicht sogar tragisch, doch man muss sagen, dass es sich dabei um eine ganz normale Dynamik handelt. Auf der anderen Seite existiert durch die Parole „Frauen, Leben, Freiheit“ ein starkes Symbol. Wenn ich es richtig beobachte, begegnen wir diesem weiterhin im Alltag, etwa im Netz oder auf Plakaten im öffentlichen Raum. Das Thema behält damit eine gewisse Dauerhaftigkeit. Und ich bin mir sehr sicher, dass sich eine breite Solidarität mobilisieren lässt, wenn die Situation in Iran wieder eine stärkere mediale Präsenz erfährt. Hier tragen die Medien auch eine große Verantwortung. Es wäre ein Zeichen ihrer Solidarität, die Situation in Iran weiterhin regelmäßig zum Gegenstand ihrer Berichterstattung zu machen, auch wenn dieses nicht den eigentlichen Nachrichtenwerten entspricht, weil bspw. keine spektakulären Bilder existieren.


Vielen Dank, Herr Tranow.


Bei der Organisation von (gesellschafts-) politischen Workshops an Schulen habe ich Sherry kennengelernt, die Schüler:innen über die aktuelle Revolution in Iran und ihren geschichtlichen Hintergrund berichtet. In einem Gespräch mit ihr will ich erfahren, was es derzeit mit dem Solidarisch-Sein im Zusammenhang mit Iran auf sich hat.



Sherry, wie hältst du dich derzeit über die Situation in Iran auf dem Laufenden?

Da meine Eltern und viele Freund:innen von mir noch in Iran leben, bekomme ich täglich aktuelle Informationen über die Geschehnisse vor Ort. Außerdem gibt es auf Telegram verschiedene Kanäle, über die ich zahlreiche Videos und Bilder zugeschickt bekomme. Hilfreich ist auch der Satellitenkanal „Iran International“: Das ist ein persischer Nachrichtensender, der sich an iranische Zuschauer:innen richtet und über Menschenrechtsverletzungen, politische Entwicklungen, Frauen- und LGBTQ+-Rechte im Land berichtet, wodurch er auch internationale Aufmerksamkeit erhielt.


Hast du das Gefühl, dass die im Ausland gezeigte Solidarität gegenüber den Menschen in Iran überhaupt etwas bewirkt?


Inwieweit sie politisch etwas bringt, kann ich nicht beurteilen. Die Proteste können als Druckmittel verwendet werden, um die Politiker:innen der westlichen Länder zum Handeln anzuregen. Zu Beginn der Massenproteste im September 2022 hatte ich große Hoffnungen, dass die Solidarität, die zum Beispiel in Deutschland durch zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen gezeigt wurde, bei der Regierung wirklich ankommt. Am Anfang haben wir Iraner:innen immer gesagt, dass wir beispielsweise den Druck der europäischen Länder brauchen, um uns gemeinsam gegen die iranische Regierung durchzusetzen. Aber nun, etwa fünf Monate nach Beginn der Massenproteste in Iran, ist vielen klar geworden, dass wir nicht auf deren Unterstützung bauen können. Wir verlangen lediglich, dass die iranische Regierung nicht mehr unterstützt wird. Dies ist derzeit (Juni 2023) aber noch der Fall, etwa durch die Geschäftsbeziehungen mit iranischen Unternehmen, die oft dem Regime oder den Revolutionsgarden angehören. Auch wenn die politische Wirkung der gezeigten Solidarität unklar ist, motiviert es die Menschen in Iran und gibt ihnen die Kraft, weiter so mutig zu sein und für ihre Rechte zu kämpfen. Wenn sie sehen, dass Menschen an vielen Orten der Welt für sie auf die Straßen gehen, haben sie das Gefühl, gesehen und gehört zu werden und nicht allein dazustehen.


Wie nimmst du die Solidarität und das Interesse für Iran in Deutschland wahr?

Allgemein habe ich das Gefühl, dass in den deutschen Medien sehr viel über Iran berichtet wird. Aber wenn ich mit meinen deutschen Freund:innen spreche oder für Veranstaltungen an die Schulen gehe, dann merke ich, wie wenig sie tatsächlich über Iran und die aktuellen Ereignisse informiert sind. So hat beispielsweise keine:r meiner Freund:innen von der großen Demonstration in Berlin gegen das iranische Regime am 22. Oktober 2022 etwas mitbekommen, obwohl dies für uns Iraner:innen ein sehr wichtiger Tag war. Das finde ich sehr schade.


Hast du Tipps dafür, wie wir vor allem auf lange Sicht mit den Iraner:innen solidarisch sein können?

Es gibt immer wieder viele Videos und Bilder über die Geschehnisse in Iran. Jede:r weiß, dass die Menschen, die diese produziert haben, ihr Leben riskiert haben. Da ist es das Mindeste, dass wir diese Videos und Bilder anschauen oder sie teilen. Außerdem ist es wichtig, sich über die aktuellen Geschehnisse zu informieren: Es gibt mehrere Instagram-Seiten von Aktivist:innen und Journalist:innen, die über Iran informieren. Es gibt zudem viele Online-Petitionen für die Freilassung politischer Gefangener, die man unterschreiben kann. Ich selbst schreibe außerdem viele E-Mails mit klaren Forderungen an Abgeordnete des Deutschen Bundestages, habe dabei jedoch das Gefühl, dass die Wirkung größer ist, wenn solche Schreiben auch von deutsche:n Bürger:innen verfasst werden.

Ich danke dir, Sherry.


Aus den Gesprächen mit dem Soziologen Ulf Tranow und der Iranerin Sherry habe ich erfahren, dass Solidarität ein gesellschaftlich bedeutsames, aber auch begrenztes Gut ist, dass wir mit Bedacht einsetzen sollten. Wir können uns nicht mit jeder einzelnen Krise gleich soli-darisch zeigen und unsere Zeit, unser Geld oder unsere Aufmerksamkeit dafür verwenden. Aber was wir tun können, ist, eine bewusste Entscheidung zu treffen, wofür man sich engagieren und womit man sich solidarisch erklären möchte. Iran, Ukraine oder Erdbeben – Naturschutz, Klimakrise oder Denkmalpflege. Das bedeutet keinesfalls, dass man sich nicht für andere Krisen interessieren sollte. Im Gegenteil. Aber gerade in unserer schnelllebigen Zeit ist es vielleicht sinnvoller, sich nachhaltig für einige wenige Projekte einzusetzen, anstatt seine Solidarität mit jeder neu auftretenden Krise in einem oberflächlichen Instapost zu beweisen. Und vielleicht schaffen wir es auch auf diesem Weg, uns beispielsweise in Deutschland wirksamer für die Menschenrechte in Iran einzusetzen und die Regierung zum Handeln zu bewegen.

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Jina Mahsa Amini war eine 22-jährige Kurdin aus der Provinz Kurdistan in Iran, die von der Sittenpolizei gewaltsam festgenommen wurde. Der Vorwurf: Sie habe ihr Kopftuch nicht der islamischen Kleidervorschrift entsprechend getragen. Kurz darauf starb sie im Krankenhaus. Der Fall sorgte weltweit für Aufsehen und war der Auslöser für die bis heute anhaltenden Proteste und der Beginn der landesweiten feministischen Revolution.


Da große Teile des Internets derzeit von der iranischen Regierung zensiert werden, ist die Bevölkerung auf Alternativen angewiesen. Eine Option, die Zensur zu umgehen, stellen die Satellitenschüsseln dar, über die ausländische TV-Sender empfangen werden können. Der Kanal „Iran International“ kann über Satellitenschüssel empfangen werden und ist daher eine wichtige Informationsquelle für Iraner:innen.




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