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Zehn Fragen in zehn Minuten

GENZ im Gespräch mit dem Antisemitismusbeauftragten der Stadt Hamburg, Stefan Hensel. Stefan Hensel (44) ist seit dem 1. Juli 2021 Beauftragter für jüdisches Leben und die Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus in Hamburg.


Cornelius für GENZ: Welche Aufgaben haben Sie als Antisemitismusbeauftragter der Stadt Hamburg?


Stefan Hensel: Als Beauftragter für jüdisches Leben und die Bekämpfung sowie Prävention von Antisemitismus geht es einerseits um jüdisches Leben und andererseits um Antisemitismus. Es ist wichtig zu betonen, dass Antisemitismus nicht das Problem der Juden ist, sondern dass es zu unserem Problem gemacht wird. Daher sollten diese beiden Themen getrennt betrachtet werden.


Wie ist es dazu gekommen, dass Sie diese Position in der Stadt Hamburg angetreten haben, und was motiviert Sie persönlich, sich gegen Antisemitismus einzusetzen?


Nachdem sich die Jüdische Gemeinde Hamburg KdöR und die Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg e. V. darauf verständigt haben, dass sie mich gerne in dieses Amt berufen wollen, wurde ich gefragt. Das Vorschlagsrecht für die Besetzung dieses Amtes liegt bei diesen beiden Organisationen. Was mich motiviert? Eigentlich denke ich, dass sich Juden gar nicht gegen Antisemitismus einsetzen müssen, denn das ist ein gesellschaftliches Problem. Eine Gesellschaft, die antisemitisch denkt oder antisemitische Erklärungsmuster duldet, ist eine unfreie Gesellschaft. Antisemitismus und die Verleugnung von Juden sind irrational. Eine Gesellschaft, die in irrationalen Kategorien denkt oder erlaubt, dass solche Ansichten verbreitet werden, ist immer unfrei, weil man nie wirklich die Ursachen von Problemen ergründen kann. Ich wurde gefragt, ob ich diese Aufgabe übernehmen möchte, und dachte, dass ich das tun kann, da ich glaube, dass ich eine Menge Erfahrung mitbringe. Aber nach zweieinhalb Jahren bin ich ziemlich ernüchtert.


Was ernüchtert Sie?


An vielen Punkten, wo es wirklich notwendig ist, Stellschrauben zu ziehen, gibt es Schwierigkeiten. Zum Beispiel, dass wir keine einheitliche Antisemitismusdefinition an den Hochschulen hier in Hamburg haben, der Documenta-Skandal ... Da habe ich mich sehr allein und auch alleingelassen gefühlt. Eigentlich gibt es jede Woche ein Thema, wo man in der Stadt das Gefühl hat, Jüdinnen und Juden zählen einfach nicht.


Hinweis aus der Redaktion: Die Documenta in Kassel ist eine alle fünf Jahre stattfindende Ausstellung für zeitgenössische Kunst aus aller Welt. Bei der 15. Documenta 2022 wurden vermehrt AntisemitismusVorwürfe gegen das ausrichtende Künstler:innenkollektiv Ruangrupa laut. Ein Expert:innengremium hat im Rahmen eines Abschlussberichts festgehalten, dass vier Werke antisemitische visuelle Codes verwenden und Aussagen transportieren, die als antisemitisch interpretiert werden.


Gibt es eine einheitliche Definition von Antisemitismus?


Wenn ich über Antisemitismus spreche, beziehe ich mich auf das, was die IHRA, das ist die International Holocaust Remembrance Alliance, als Definitionsgrundlage hat. Ihre Definition ist der Standard, den das Europäische Parlament, der Deutsche Bundestag und eigentlich alle Wissenschaftler nutzen, wenn sie über Antisemitismus sprechen.


Hinweis aus der Redaktion: Definition von Antisemitismus nach IHRA: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“


Derzeit hört und liest man oft den Satz „Nie wieder ist jetzt“. Was ist damit gemeint?


Nie wieder bezieht sich darauf, dass Auschwitz nie wieder geschehen soll. Also die systematische Vernichtung von 6 Millionen Juden, aber auch von anderen Gruppen wie Sinti und Roma, Homosexuellen, Behinderten und teilweise politischen Gefangenen. Wenn es heißt ist jetzt, bedeutet das, konsequent gegen diese Form von Antisemitismus einzutreten. Meiner Meinung nach sollte das auch für andere Formen von Menschenfeindlichkeit gelten, besonders aber für Antisemitismus. Das bedeutet in meiner Logik natürlich auch, den einzigen jüdischen Staat, Israel, zu unterstützen, damit Juden sicher leben können.


Was kann ich tun, wenn ich oder eine Person in meinem Umfeld mit Antisemitismus konfrontiert wird?


Ich glaube, Antisemitismus tritt in vielen Formen auf, und man muss nicht jüdisch sein, um damit konfrontiert zu werden. Wenn man Verschwörungstheorien oder Narrative hört, wie Juden sind alle reich, oder zum Beispiel, dass das, was die Juden heute in Israel machen, das ist, was die Nazis gemacht haben, ist es wichtig, zunächst zu fragen: Woher stammen deine Informationen? Hast du das überprüft? Und dann sagen sie vielleicht: Ja, aber ich habe das bei Instagram gesehen oder wo auch immer. Dann sollte man mit den Personen ins Gespräch kommen und sagen: Erstens, das, was du sagst, ist sachlich falsch und zweitens, lass uns darüber sprechen, warum die Person solche Lügen verbreitet. Oft wissen die Menschen es besser, verbreiten aber solche Ansichten, weil sie denken, dass viele es genauso sehen. Mein Amt selbst ist keine Meldestelle für solche Erfahrungen, aber viele Menschen wenden sich an mich, weil ich selbst Jude bin und sie mich kennen, oft aus der Gemeinde. Oft wollen die Leute ihre Erfahrungen nicht explizit melden. Sie wenden sich häufig nicht an die Polizei, da sie an solche Vorfälle gewöhnt sind und versuchen, sie zu überhören. Man denkt immer, Antisemitismus bedeutet, geschlagen oder angespuckt zu werden, aber oft sind es unterschwellige Bemerkungen. Gerade nach dem 7. Oktober 2023 haben Menschen das in einer ganz anderen Art und Weise erfahren.


Was sind aus Ihrer Sicht Faktoren, die Antisemitismus in der Gesellschaft begünstigen oder weiter festigen?


Zum einen fördert es ein Wir-Gefühl gegenüber dem Ihr, den Anderen. Das ist eine Motivation, zu sagen, die Juden tun dies oder das. Auch wenn es nicht um die Juden geht, sondern um eine imaginäre Macht, die gegen einen ist. In Verschwörungserzählungen gibt es immer irgendwelche Mächte, die alles kontrollieren. Am Ende landet man, wenn man nachfragt, oft bei den Juden. Aber ich glaube, es geht darum, eine komplexe Welt zu vereinfachen und einen einfachen Schuldigen zu finden. Das baut auf verschiedenen Diskriminierungsmustern des Antisemitismus auf, der in Deutschland nie verschwunden ist, sondern immer konstant vorhanden war und sich in Krisen modernisiert. Zum Beispiel wurden wir während COVID-19 beschuldigt, für die Pandemie verantwortlich zu sein und würden vom Impfstoff profitieren. Antisemitismus lässt sich immer anpassen.


Wie blicken Sie auf die Wahl zum Europäischen Parlament im Juni?


Grundsätzlich durchläuft Europa einen Transformationsprozess. Man würde von mir erwarten, dass ich sage, es sei besorgniserregend, dass rechte Parteien großen Einfluss haben. Auf der anderen Seite muss man sagen, wenn es um die Themen Israel und Juden geht, ist die Haltung nicht einheitlich. Die Einschränkung jüdischen Lebens, beispielsweise im Rahmen von Schächtung oder Beschneidung, sowie die freie Religionsausübung sind sowohl in der extremen Linken als auch in der Linken genauso verankert wie in der extremen Rechten und in der Rechten. Oft unterscheiden sich nur die Begründungszusammenhänge. Wir haben ein grundsätzliches Problem mit Antisemitismus in Europa, das sich durch alle politischen Spektren zieht. Der Vernichtungsantisemitismus ist meist islamistisch oder rechtsextrem, das stimmt. Aber die Ablehnung von Juden erfolgt durch alle politischen Spektren.


Was könnten Einzelne in der Gesellschaft tun, um etwas beizutragen oder um Unterstützung zu leisten? Haben Sie Tipps für weiterführendes Material?


Ich glaube, es ist wichtig, ernst zu nehmen, wenn jüdische Organisationen und Juden sagen, sie fühlen sich an einem gewissen Punkt unwohl. Das ist ein guter Gradmesser dafür, dass in der Gesellschaft etwas nicht stimmt. Wenn beispielsweise viele Menschen auf die Straße gehen, um gegen rechtsextreme Deportationsfantasien zu demonstrieren, finde ich das gut. Wenn jedoch inmitten dieser Demonstrationen Menschen mit Transparenten auftauchen, auf denen steht „Zionismus ist rechts“ oder uns eines Genozids beschuldigen, muss man sich fragen, ist die Botschaft angekommen? Ich wünschte mir, dass Menschen mehr Solidarität mit Juden zeigen. Wir müssen immer um unsere Plätze kämpfen. Selbst jetzt, wenn es gegen Rechtsextremismus geht, sieht man auf Kundgebungen am Jungfernstieg Leute mit Palästina-Flaggen. Das waren die einzigen Nationalflaggen und Transparente, die ich gesehen habe. Ich frage mich, warum müssen wir eigentlich dafür kämpfen, Teil der Gesellschaft sein zu können? Wenn man sich weiter informieren möchte, macht es, glaube ich, Sinn, auf Instagram zum Beispiel der Jüdischen Studierendenunion zu folgen. Dort gibt es gezielte Informationen von jungen Jüdinnen und Juden, die eine Meinung haben und sich einbringen wollen. Das finde ich richtig, dass man den Menschen, die es betrifft, Raum gibt und sagt: Wir hören euch zu und wir machen etwas zusammen. Viele Leser dieses Magazins werden wahrscheinlich selbst aktiv sein. Eine andere Möglichkeit ist, über „Meet a Jew", ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, einen Juden in seinen Sportverein, die Schule oder einen Kurs einzuladen. Jugendliche im gleichen Alter kommen in die Schule oder den Sportverein und erzählen von ihrem ganz normalen jüdischen Leben. Meistens sind es ein Junge und ein Mädchen. Das würde ich auf jeden Fall empfehlen.


Gibt es für den Moment noch etwas Ungesagtes?


Ja, ich hätte gerne, dass man versteht, dass Jüdinnen und Juden nicht nur Opfer sind, sondern dass Jüdinnen und Juden die Gesellschaft mitgestalten wollen, und diesen Gestaltungsraum muss man einräumen. Auch wenn es manchmal bedeutet, die eigene Position zu hinterfragen. Aber wir sind da. Es geht nicht nur darum, toter Juden zu gedenken, sondern lebendiges jüdisches Leben zu ermöglichen.


Vielen Dank, Herr Hensel.

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