In den letzten Jahren hat die Europäische Union (EU) eine Reihe bedeutender Gesetze für den digitalen Bereich verabschiedet, die als mutige Schritte zur Regulierung der digitalen Welt betrachtet werden können. Dazu gehören der „AI Act“, der „Digital Services Act“ (DSA) und der „Digital Markets Act“ (DMA). Diese Regulierungen werden nicht nur die Art und Weise, wie digitale Plattformen funktionieren, grundlegend verändern, sondern prägen auch die digitale Zukunft der GenZ, die mit diesen Technologien aufwächst und sie intensiv nutzt. Doch was steckt hinter diesen Regulierungen, und wie mutig sind sie gestaltet? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir den Begriff „mutig“ in diesem Kontext definieren und die wesentlichen Aspekte dieser Gesetze verstehen.
Mut im Kontext der digitalen Regulierung
Im politischen und regulatorischen Kontext könnte man unter „mutig“ verstehen, Maßnahmen zu ergreifen, die weitreichend und zukunftsweisend sind, insbesondere, wenn sie gegen starke Interessen oder tief verwurzelte Strukturen gerichtet sind. Ein Beispiel dafür ist der AI Act, der strenge Vorgaben für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der EU festlegt. Während Befürworter:innen diese Maßnahmen als notwendig erachten, um ethische Standards und Transparenz sicherzustellen, kritisieren einige Expert:innen, dass diese strengen Auflagen die Innovationskraft der europäischen Unternehmen beeinträchtigen könnten. Andere finden jedoch, dass der AI Act noch weiter hätte gehen können, indem er beispielsweise bestimmte risikoreiche Anwendungen wie die Nutzung von KI für Überwachungszwecke oder im militärischen Kontext komplett verboten hätte.
Mutige Regulierung geht Risiken ein, indem sie für die Lösung von Problemen oft neue, (meist) noch ungetestete Maßnahmen einführt, die möglicherweise nicht wie geplant funktionieren oder unerwartete Nebenwirkungen haben. Im Kontext der digitalen Regulierung bedeutet dies z. B., dass die Gesetzgeber:innen bereit sind, gegen etablierte und mächtige Akteur:innen vorzugehen und neue Regeln zu implementieren, die tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise bewirken können, wie digitale Plattformen und Technologien betrieben werden. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Digital Markets Act (DMA), der darauf abzielt, die Marktmacht großer Technologieunternehmen zu beschränken. Während Befürworter:innen den DMA als notwendigen Schritt zur Sicherung des Wettbewerbs begrüßen, befürchten Kritiker:innen, dass die damit verbundenen bürokratischen Hürden vor allem kleinere Unternehmen unverhältnismäßig stark belasten könnten. Einige fordern, dass der DMA noch mutiger hätte sein müssen, etwa durch die Aufspaltung großer Techkonzerne in kleinere, unabhängige Einheiten, um monopolistische Strukturen effektiv zu verhindern.
Aspekte der Risikobereitschaft in der mutigen Regulierung
Im Folgenden werden fünf zentrale Aspekte der Risikobereitschaft in mutiger Regulierung beleuchtet, die verdeutlichen, wie weitreichende und zukunftsweisende Maßnahmen zur Bewältigung digitaler Herausforderungen aussehen können. Zudem werden die Einschätzungen von sowohl Kritiker:innen als auch Befürworter:innen der einzelnen Regulierungen erwähnt:
1. Innovative Ansätze und Ungewissheit
Mutige Regulierung beinhaltet oft die Einführung neuer Konzepte und Techniken, deren Auswirkungen nicht vollständig vorhersehbar sind. Der AI Act ist ein solches Beispiel, bei dem strenge Vorschriften für die Nutzung von KI eingeführt wurden. Diese Vorschriften sind ein mutiger Schritt, um ethische Standards zu gewährleisten, doch Kritiker:innen warnen, dass sie Innovationen hemmen könnten, weil Unternehmen aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen unter Umständen zögern werden, neue Technologien zu entwickeln. Darüber hinaus hätte der AI Act noch striktere Regelungen zur Offenlegung von Trainingsdaten und Algorithmen festlegen können, um die Transparenz und ethischen Standards weiter zu erhöhen.
2. Widerstand und Interessenkonflikte
Mutige Regulierungen stehen häufig im Gegensatz zu den Interessen mächtiger Wirtschaftsakteur:innen. Der Digital Markets Act (DMA) zum Beispiel zielt darauf ab, die Marktmacht großer Technologieunternehmen zu beschränken. Doch der DMA hätte noch mutiger sein können, wenn er weitreichendere Forderungen gestellt hätte. Eine striktere Regulierung der Marktzugangsbarrieren hätte dazu beigetragen, dass dominante Unternehmen nicht durch übermäßige Preissetzung oder gezielte Übernahmen den Wettbewerb ersticken. Zudem sagen Kritiker:innen, dass der DMA die Aufspaltung großer Techkonzerne in kleinere, unabhängige Einheiten hätte vorschreiben können, um die Bildung neuer monopolistischer Strukturen zu verhindern. Schließlich hätte eine erweiterte Interoperabilität, die nicht nur Nachrichtendienste, sondern auch soziale Netzwerke, Marktplätze und Betriebssysteme umfasst, die digitale Infrastruktur weiter öffnen können. Kritiker:innen auf der anderen Seite, insbesondere aus der Techbranche, sehen im DMA einen Angriff auf erfolgreiche Geschäftsmodelle und befürchten einen Rückgang ihrer Innovationsfähigkeit. Diese Unternehmen leisten erheblichen Widerstand und versuchen immer wieder, die Umsetzung solcher Regelungen zu verzögern oder zu verhindern. Und dann kommt es auf die Gesetzgeber:innen an: Diese müssen bereit sein, diesen Widerstand zu überwinden und die Regelungen trotz der potenziellen (kurzfristigen) wirtschaftlichen Einbußen effizient durchzusetzen.
3. Langfristige Ziele und kurzfristige
Herausforderungen
Mutige Regulierung fokussiert sich oft auf langfristige gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorteile, während sie kurzfristige Herausforderungen in Kauf nimmt. So zielt der Digital Services Act (DSA) darauf ab, die Transparenz und Verantwortlichkeit von Onlineplattformen zu erhöhen, was langfristig das Vertrauen der Nutzer:innen stärken und die Sicherheit im Netz verbessern soll. Befürworter:innen betonen die Dringlichkeit dieser Maßnahmen, um den Wildwuchs an Desinformation und Hassrede im Internet einzudämmen. Allerdings gibt es auch Bedenken, dass die neuen Vorschriften kurzfristig hohe Anpassungskosten und rechtliche Unsicherheiten für Unternehmen verursachen könnten. Einige Kritiker:innen sagen, dass die Strafe für die Nichteinhaltung der Vorschriften mit 6 % des weltweiten Jahresumsatzes eines Unternehmens zwar hoch, aber nicht hoch genug ist, um für diese großen Unternehmen wirklich abschreckend zu wirken – sie fordern eine Erhöhung der Strafe auf 10 %, was jedoch nicht umgesetzt wurde.
4. Unvorhersehbare wirtschaftliche
Auswirkungen
Die Einführung umfassender Regulierungen kann unvorhersehbare Auswirkungen auf den Markt haben. Beispielsweise könnte der DMA dazu führen (bzw. er hat es schon), dass große Technologieunternehmen ihre Geschäftsmodelle anpassen müssen, was wiederum Auswirkungen auf die gesamte (digitale) Wirtschaft hat. Wirtschaftsexpert:innen sind sich uneinig: Einige sehen in den Anpassungen eine notwendige Maßnahme, um nachhaltig faire Marktbedingungen zu schaffen, während andere davor warnen, dass dies zu einem Wettbewerbsnachteil für europäische Unternehmen auf globaler Ebene führen könnte.
5. Internationale Reaktionen und
Wettbewerbsfähigkeit
Mutige Regulierungen können internationale Reaktionen hervorrufen und die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unternehmen auf globaler Ebene beeinflussen. Strenge Vorschriften in der EU könnten dazu führen, dass Unternehmen Wettbewerbsnachteile im Vergleich zu weniger regulierten Märkten erleiden. Während Befürworter:innen dies als notwendigen Schritt sehen, um höhere Standards durchzusetzen, warnen Kritiker:innen, dass dies die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem globalen Markt schwächen könnte. Dennoch nimmt die EU dieses Risiko in Kauf, um mit ihren eigenen hohen Anforderungen eine Vorreiter:innenrolle in der globalen Regulierung von digitalen Diensten und Märkten zu übernehmen.
Fazit: Wie mutig sind die neuen Regulierungen wirklich?
Die neuen digitalen Regulierungen der EU sind zweifellos mutig in dem Sinne, dass sie umfassende Maßnahmen zur Bewältigung digitaler Herausforderungen darstellen und bestehende Machtstrukturen herausfordern. Der DSA, AI Act und DMA zeigen, dass die EU bereit ist, eine führende Rolle bei der Regulierung der digitalen Wirtschaft weltweit zu übernehmen und die Rechte der Bürger:innen in den Mittelpunkt zu stellen. Trotz dieser Fortschritte bleibt die Frage, ob die EU in einigen Bereichen nicht noch mutiger hätte agieren können, um den digitalen Markt umfassender und nachhaltiger zu gestalten.
Drei Gesetze auf dem Kurzprüfstand
Der AI Act: Mut zur Verantwortung
Der AI Act zielt darauf ab, die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der EU zu regulieren und dabei ein hohes Maß an Transparenz, Sicherheit und ethischen Standards sicherzustellen. Der AI Act definiert verschiedene Risikokategorien für KI-Anwendungen und legt spezifische Anforderungen für deren Entwicklung und Einsatz fest.
Aktueller Stand: Der AI Act wurde im Juni 2024 von den EU-Staaten verabschiedet und trat im August 2024 offiziell in Kraft. Nach einer Übergangsphase von 24 Monaten wird er voraussichtlich ab August 2026 vollständig angewendet.
Mutig: Die EU nimmt eine globale Führungsrolle ein, indem sie strenge Regeln für KI einführt, die weit über das hinausgehen, was in anderen Teilen der Welt üblich ist. Einige Expert:innen sehen darin eine Chance, das Vertrauen der Öffentlichkeit in KI zu stärken.
Der Digital Services Act (DSA): Mut zur Transparenz
Der DSA zielt darauf ab, die Verantwortlichkeit und Transparenz von Onlineplattformen zu erhöhen. Er legt neue Verpflichtungen für die Bekämpfung illegaler Inhalte, die Transparenz von Algorithmen und den Schutz der Grundrechte der Nutzer:innen fest.
Aktueller Stand: Der DSA ist seit November 2022 offiziell in der EU in Kraft. In der Anfangsphase war die Verordnung nur für sehr große Plattformen und Onlinesuchmaschinen verpflichtend. Seit Februar 2024 gilt der DSA in vollem Umfang für alle betroffenen Dienste.
Mutig: Durch die Einführung umfassender Transparenzanforderungen und strengerer Regeln zur Moderation von Inhalten stellt der DSA sicher, dass große Plattformen wie Meta und Google mehr Verantwortung für die auf ihren Seiten veröffentlichten Inhalte übernehmen müssen. Dies ist ein bedeutender Schritt zur Regulierung der Macht großer Technologieunternehmen.
Der Digital Markets Act (DMA): Mut zur Wettbewerbsfähigkeit
Der DMA zielt darauf ab, fairen Wettbewerb im digitalen Markt zu fördern, indem er bestimmte Praktiken großer Onlineplattformen (sogenannte „Gatekeeper“laut Europäischer Kommission) einschränkt. Er verbietet unter anderem die bevorzugte Behandlung eigener Dienste und fordert Interoperabilität zwischen verschiedenen Plattformen. So müssen Nutzer:innen auf Messengerdiensten wie bspw. WhatsApp „auch mit Kontakten auf anderen Messengern kommunizieren können“ .1
Aktueller Stand: Der DMA wurde im November 2022 offiziell verabschiedet und wird ab 2024 vollständig in Kraft treten, wobei die Mitgliedstaaten derzeit mit der Umsetzung und deren Überwachung beginnen.
Mutig: Der DMA ist eine mutige Initiative zur Bekämpfung monopolistischer Tendenzen und zur Förderung eines fairen Wettbewerbs in der digitalen Wirtschaft. Er stellt sicher, dass große Unternehmen ihre Marktmacht nicht missbrauchen und schafft Raum für Innovation und Wettbewerb.2
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(1) Reuter, M. (2024, 8. Februar). Interoperabilität: WhatsApp soll bald mit anderen Messengern reden können, online auf netzpolitik.org. (zuletzt abgerufen: 03.07.24).
(2) Das Gesetz über digitale Märkte: für faire und offene digitale Märkte. (o. D.). Europäische Kommission, online auf commission.europa.eu (zuletzt abgerufen: 03.07.24)
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